Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
Vom Netzwerk:
nahm er es in die Finger. Leicht und kühl strichen sie über Wills Handteller.
    »Ich denke, das kann ich essen«, sagte er. »Aber ein Stück reicht vollkommen, danke.«
    Er setzte sich und knabberte stumm an dem Kuchen. Wie der stellte Will fest, dass er ihn sehr viel deutlicher wahrnahm, wenn er ins Feuer blickte und ihn nur aus den Augenwinkeln sah.
    »Wo steckt Baruch denn?«, fragte er. »Kann er sich mit dir verständigen?«
    »Ich spüre, dass er in der Nähe ist. Bald wird er da sein, und dann werden wir reden. Reden ist am besten für uns.«
    Kaum eine Minute später hörten sie leise Flügelschläge. Balthamos stand aufgeregt auf, und im nächsten Moment fielen die Engel sich in die Arme.
    Will starrte in die Flammen und sah, wie sehr sie einander zugetan waren, oder mehr noch als das; sie liebten einander innig.
    Baruch setzte sich neben seinen Gefährten und Will schürte das Feuer. Eine Rauchwolke trieb an den Engeln vorbei. Durch sie sah er die beiden zum ersten Mal ganz deutlich. Balthamos war schlank, hatte die schmalen Flügel elegant auf dem Rücken gefaltet und wirkte hochmütig und zugleich überfließend vor zärtlicher Liebe, so als würde er alle Dinge auf der Welt lieben, wenn er nur ihre Mängel übersehen könnte. Baruch besaß für ihn ganz offensichtlich keine Mängel. Er schien jünger, wie Balthamos gesagt hatte, war kräftiger gebaut, mit schneeweißen, mächtigen Flügeln, hatte ein schlichteres Wesen und blickte zu Balthamos als der Quelle aller Weisheit und Freude auf. Die Liebe der Engel faszinierte Will und rührte ihn an.
    »Hast du Lyra gefunden?«, fragte er erwartungsvoll.
    »Ja«, antwortete Baruch. »Hoch droben im Himalaja, an einem Gletscher, dessen Eis das Licht in Regenbogen verwandelt, liegt ein Tal. Ich zeichne dir eine Karte auf den Boden, damit du es findest. Die Frau hat das Mädchen in Schlaf versetzt und hält es in einer Höhle im Wald gefangen.«
    »In Schlaf versetzt? Und ist die Frau allein? Sind keine Soldaten bei ihr?«
    »Sie ist allein. Sie versteckt sich.«
    »Und Lyra fehlt sonst nichts?«
    »Nein, sie schläft nur und träumt. Ich zeige dir, wo sie sind.«
    Mit einem blassen Finger malte Baruch eine Karte in die Erde neben dem Feuer. Will nahm sein Notizbuch und zeichnete sie genau ab. Sie zeigte einen seltsam gewundenen Gletscher, der zwischen drei fast gleich aussehenden Gipfeln nach unten führte.
    »Und jetzt«, sagte der Engel, »einen genaueren Ausschnitt. Das Tal mit der Höhle läuft links vom Gletscher ab. Ein Bach mit Schmelzwasser fließt durch es hindurch. Den Eingang findest du hier ... «
    Er ritzte eine zweite Karte, und wieder zeichnete Will sie ab. Dann folgte eine dritte, noch genauere. Will war jetzt überzeugt, dass er die Höhle ohne Schwierigkeiten finden würde - wenn er erst die sechs- oder achttausend Kilometer zwischen der Tundra und dem Gebirge zurückgelegt hatte. Mit dem Messer konnte er zwar Fenster von einer Welt in die andere schneiden, leider aber nicht Entfernungen innerhalb einer Welt verkürzen.
    In der Nähe des Gletschers befindet sich ein Schrein, an dem vom Wind zerfetzte Fahnen aus roter Seide hängen«, schloss Baruch. »Ein kleines Mädchen bringt Essen an die Höhle. Die Bevölkerung hält die Frau für eine Heilige, die ihnen Glück bringt, wenn sie sie mit Nahrung versorgen.«
    »Verrückt«, sagte Will. »Und sie versteckt sich! Das verstehe ich nicht. Etwa vor der Kirche?«
    »So scheint es.«
    Will steckte das Notizbuch sorgfältig weg. Er hatte den Becher aus Blech auf die Steine am Rand des Feuers gestellt, um Wasser zu erhitzen. Jetzt schüttete er etwas Pulverkaffee hinein und rührte mit einem Stöckchen um. Dann wickelte er sich ein Taschentuch um die Hand, nahm den Becher auf und trank.
    Ein brennender Ast fiel nach unten. Irgendwo rief ein Nachtvogel.
    Plötzlich und ohne einen für Will ersichtlichen Grund blickten beide Engel auf. Er folgte ihrem Blick, sah aber nichts. Er hatte seine Katze einmal so etwas tun sehen: Sie war aus dem Halbschlaf aufgefahren und hatte beobachtet, wie etwas oder jemand Unsichtbares ins Zimmer kam und es durchquerte. Wills Haare hatten sich damals gesträubt, und so erging es ihm auch diesmal.
    »Mach das Feuer aus«, flüsterte Balthamos.
    Will schaufelte mit der gesunden Hand Erde auf das Feuer und löschte es. Sofort drang ihm die Kälte bis ins Mark und er begann zu zittern. Er wickelte sich in den Mantel und starrte wieder nach oben.
    Und jetzt sah er etwas,

Weitere Kostenlose Bücher