Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Bernsteinerbe

Das Bernsteinerbe

Titel: Das Bernsteinerbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
Vom Netzwerk:
der kalten Jahreszeit trafen dort Kaufleute aus nah und fern ein, wie sie aus ihrer Zeit im Grünen Baum wusste.
    Beim Gedanken an den nahenden Winter schüttelte es Lina. Hastig reckte sie die Nase Richtung Sonne, die an diesem letzten Montag im September noch immer warm vom Himmel strahlte. Wenn das milde Wetter noch einige Tage anhielt, war es nicht schlimm, keine Bleibe zu haben. Dann konnte sie es wagen, sich für eine Weile in den Lauben auf der Lomse zu verbergen. Mit neuerwachter Zuversicht strich sie sich das strohblonde Haar aus dem Gesicht, wand es am Hinterkopf zu einem Zopf und steckte es hoch. Selbst das Nächtigen in einer Gartenlaube schien ihr allemal besser als das Ausharren bei Fritz und dem Kind. Kurz spürte sie einen feinen Stich in der Herzgegend, erinnerte sich an zwei große blaue Augen und zwei winzige Händchen, die sich ihr flehentlich entgegenstreckten. Rasch schob sie das Bild weg, dachte an die aufgedunsene Fratze von Fritz, wenn er schwankend vor ihr stand, ätzenden Branntweingeruch ausatmete und versuchte, ihr keuchend ein weiteres Kind zu machen. Gut, dass sie dem entkommen war! Auch wenn der Preis für die Flucht hoch gewesen war, so öffnete sich auch ein kleiner Spalt Hoffnung. Eines Tages würde sie zurückkehren und das Kind für immer zu sich holen.
    »Pass auf, wo du hintrittst.« Ein Bursche versetzte ihr mit dem Ellbogen einen Stoß. Sie hatte es satt, herumgeschubst zu werden, und hob empört die Hand, da sah sie, dass er einen guten Kopf größer war als sie und obendrein Hut und Umhang eines Studenten von der Albertina trug. »Entschuldigung«, murmelte sie kleinlaut. Wie gut sie daran tat, merkte sie, als sie kurz darauf zwei weitere Studenten entdeckte, die dem ersten dicht auf den Fersen folgten. »Ja, die Herren Studiosi«, gackerte ein zahnloser alter Mann neben ihr. »Um die schlägt man besser einen weiten Bogen. Keiner von uns will sich mit denen anlegen.« Er kratzte sich am kahlen Schädel, schob dabei seine löchrige Mütze vom Kopf und entblößte die grindige Haut darunter. Angewidert wandte Lina sich ab und suchte rasch auf die andere Seite der Langgasse zu gelangen, wo weniger verwahrloste Menschen unterwegs waren.
    Nach wenigen Schritten tauchten abermals die beiden Blauröcke mit den Filzhüten vor ihr auf. »Du kommst ihnen nicht aus, was, mein Kind?« Schon stand der kahle Alte wieder bei ihr und hauchte sie bei jedem Wort aus seinem fauligen Mund an. Als er die Hand nach ihr ausstreckte, zuckte sie zurück. Wieder gackerte er wie ein Huhn. »Nicht erschrecken: Das hier sind keineswegs zwei tapfere Helden, die im Auftrag des Kurfürsten den Kneiphof ausspähen. Die sind höchstens nur insofern tapfer, als sie die Mutprobe ihrer Kommilitonen bestehen.« Da Lina ihn verständnislos ansah, fuhr er fort: »Die zwei Studenten haben sich die Röcke der Kurfürstlichen nur übergestreift und müssen so durch die gesamte Langgasse marschieren. Schaffen sie es, am Ende heil anzukommen, werden sie von den anderen wie Helden gefeiert. Schaffen sie es nicht, kriegen sie von den Kneiphofern unterwegs die verdienten Prügel für den Unsinn. Glaub mir, mein Mädchen: Früher, als uns allen lieb sein kann, tauchen hier sowieso die echten Blauröcke auf. Und dann ist Schluss mit dem Übermut, das kannst du mir glauben. Sowohl mit dem der Studenten als auch mit dem der Stände.« Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu, kratzte sich noch einmal ausführlich am Kopf und setzte die löchrige Mütze wieder auf. Brummend trottete er von dannen.
    Verwundert sah Lina ihm nach, bis er im Gewühl nahe dem Badehaus verschwunden war. Ihr Blick streifte an den Fassaden der gegenüberliegenden Häuser entlang: Fresken, Ornamente, Figuren und erlesene Materialien, wohin sie auch blickte. Selbst in den kleinsten Winkeln kehrten die Einwohner der Dominsel ihren Reichtum heraus. Kein Wunder, dass der Kurfürst gierig die Finger nach dem Geld der Königsberger ausstreckte. Wer so übermütig mit seinem Besitz protzte, dem geschah das letztlich nur recht. Sie stutzte und sah ein zweites Mal hin. Nein, sie hatte sich nicht getäuscht: Gegenüber lag das Singeknecht-Anwesen. Nicht nur die Fresken und Reliefs an jeder nur denkbaren Ecke der Fassade, sondern vor allem die goldenen Figuren auf den einzelnen Stufen des Giebels, obenauf gekrönt von einem hochmütigen Neptun mit Dreizack, nahmen dem Betrachter schier den Atem. Linas Herz vollführte einen kleinen Freudenhüpfer. Dass sie

Weitere Kostenlose Bücher