Das Bernsteinerbe
ausgerechnet in dieser Stimmung vor dem Haus angelangt war, musste ein Wink des Schicksals sein. Zwar waren die Singeknechts seit langem ausgestorben, ihre direkten Nachfahren aber, Magdalena und Carlotta Grohnert, waren vor vier Jahren in die Stadt zurückgekehrt. Mehr als einmal hatte die katholische Lina die beiden ebenfalls katholischen Neuankömmlinge auf Geheiß der Wirtin des Grünen Baums bei wichtigen Gängen durch die protestantische Stadt begleitet. Gleich sah sie die zierliche, rotblonde Carlotta vor sich, wie sie in jenem Sommer an ihrem geheimen Zufluchtsort am südlichen Pregelufer gesessen und um ihren gerade verstorbenen Vater getrauert hatte. Wie sie errötet war, als Lina ihr von ihrem Liebsten erzählt hatte, von all den hochfliegenden Plänen, die sie mit Fritz seinerzeit gehegt hatte. Ganz so unschuldig, wie sich Carlotta gegeben hatte, war sie mit ihren dreizehn Jahren dann doch nicht gewesen. Dafür hatte Lina schon damals ein gutes Gespür gehabt.
Versonnen wanderte ihr Blick erneut über das Kaufmannshaus. Ebenerdig, direkt neben dem doppelflügeligen Eingang, erstreckte sich das Kontor. Carlottas Mutter Magdalena führte den von ihren Ahnen begonnenen Bernsteinhandel also fort. Gleich darüber, im ersten Stock, balancierte eine schmächtige Magd am offenen Fenster und versuchte, trotz der gefährlichen Stellung auf dem Sims die Scheiben zu polieren. Welch ein vergebliches Unterfangen, warf die Vormittagssonne doch unbarmherzig ihre Strahlen auf die Glasstücke zwischen den Bleiverstrebungen! Von drinnen erteilte eine untersetzte, apfelbäckige Frau aufgebracht ihre Anweisungen. Wild gestikulierend, trat sie an die offen stehenden Fensterflügel. Lina brauchte nicht erst die Ohren zu spitzen, um zu ahnen, wie unzufrieden die Wirtschafterin mit dem von der verschreckten Magd erzielten Resultat war. Wissend schmunzelte sie. Die kostbaren Fensterscheiben polieren, das war eine ihrer leichtesten Übungen gewesen, als sie noch Magd bei den Wirtsleuten im Grünen Baum am anderen Ende der Langgasse gewesen war. In Sachen streifenfreier Scheiben machte ihr so schnell keiner etwas vor. Außer auf warmes Wasser, viel Essig sowie kostbares Papier zum Nachpolieren schwor Lina auf trübe, graue Tage. So angenehm die Sonne wärmte, so hinderlich war sie für blank gewienerte Scheiben. Für den hartnäckigen Fliegendreck hatte Lina darüber hinaus noch eine ganz besondere Waffe parat. Die war zwar nicht eben billig und von daher nicht für jeden Bürgerhaushalt geeignet, aber so, wie das Singeknecht’sche Anwesen vor Reichtum strotzte, war sie dort ganz gewiss angebracht. Sie lächelte. Alles in allem sah es ganz danach aus, als freute sich die Wirtschafterin über neue, zupackende Hilfe.
Entschlossen strich Lina das Mieder glatt, spuckte auf die staubbedeckten Schuhspitzen und rieb sie am Rocksaum blank. Rasch steckte sie eine vorwitzige Haarsträhne in den streng gezwirbelten Zopf zurück und marschierte aufrechten Hauptes quer über die Straßen direkt auf den opulenten Beischlag zu. Ein halbes Dutzend sauber gefegter Treppenstufen führte in dessen Mitte zum Eingang des Hauses hinauf. Schon als sie den Fuß auf die erste der breiten Sandsteinstufen setzte, wusste sie, dass sie gut daran tat.
4
A ls der riesige schwarze Schatten von hinten seine Schwingen über sie legte und sie mit einem lüsternen Auflachen gegen die Mauer um den Gemeindegarten am Pregel presste, erschrak Carlotta bis ins Mark. Gerade noch rechtzeitig unterdrückte sie einen Aufschrei. Christoph breitete bereits die Arme aus, um sie aufzufangen.
»Wie konntest du nur!«, entfuhr es ihr aufgebracht. Als sie sein zerknirschtes Gesicht sah, schmolz der Ärger dahin.
»Verzeih«, wisperte er leise. »Nichts lag mir ferner, als dich mit meinem Spaß zu Tode zu erschrecken.«
»Das war ein schlechter Spaß!« Sie sank in seine Arme und wartete, bis sich ihr Herzschlag beruhigte. Urplötzlich hatte sie es eben mit der Angst bekommen. Zu allem Überfluss hatte Christoph seltsam zu keuchen begonnen und sein Gesicht vor ihr verborgen. Auf einmal war ihr die lang verdrängte Erinnerung an jene Nacht im Spreewald vor viereinhalb Jahren vor Augen gestanden. Zwei Fuhrleute wollten damals über sie herfallen. Ein Zufall nur hatte sie vor dem Schlimmsten bewahrt. Sie schloss die Augen, vergrub die Nase in Christophs Brust und umklammerte den Bernstein. Ihr Atem ging noch immer schnell, ihr Puls raste. Sacht strich Christoph ihr über das
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