Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Bernsteinzimmer

Das Bernsteinzimmer

Titel: Das Bernsteinzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
Begrabensein bedeutete? Was bin ich zuerst: Zar von Rußland oder Vater eines mißratenen Sohnes? Was ist meine Pflicht gegenüber dem Vaterland, Gott und der übrigen Welt? Wer hilft mir? Mir, dem allmächtigen Zaren, der jetzt allein ist, ganz allein – und weint?
    In der Nacht zum 26. Juni stand Wachter wieder vor dem Bernsteinzimmer auf dem Flur und wartete auf den Zaren. Wieder hatte er Licht gesehen, war voll dunkler Ahnungen in das Palais gelaufen und hatte an der Tür des Zimmers gerüttelt. Von innen kam keine Antwort, kein Wort, kein Zuruf, nur die stampfenden, dröhnenden Schritte hörte man, wenn der Zar ruhelos hin und her lief, und eine Art dumpfes Trommeln hörte man auch, das sich Wachter nicht erklären konnte. Es war, wie wenn der Zar sich selbst mit Fäusten schlug.
    Um vier Uhr morgens öffnete der Zar die Tür und trat hinaus. Schrecklich sah er aus, zerstört das Gesicht, bleich, mit zuckendem Mund und starrem Blick. Die Krämpfe hatten ihn wieder geschüttelt und ihre Spuren tief in ihm hinterlassen.
    »Da ist Er ja schon wieder!« sagte Peter mit müder Stimme. »Werd ich Ihn denn nie los?«
    »Nur wenn Sie mich köpfen lassen, Majestät.«
    »Vielleicht wird das einmal geschehen.« Der Zar lehnte sich wieder an die Wand des Flures. »Was will Er hier? Ich weiß, ich weiß … Er hat Licht gesehen. Aber nun weiß Er, wer hier ist, und Er kann gehen!«
    »Mich treibt die Sorge, Majestät.«
    »Sorge um wen? Um mich oder um den Zarewitsch?«
    »Um beide, Majestät. Es ist eine Einheit.«
    »Wenn Er weiterredet, ist Sein Kopf noch heute ab!« schrie der Zar. »Geh Er!«
    »Sei's drum, Majestät.« Wachter holte tief Atem. »Alle kennen das Urteil gegen den Zarewitsch. Alles blickt nach Petersburg. Was tut der Zar?«
    »Was er tut?« Peter I. ballte die Fäuste. »Allein ist er. Allein mit Gott! Allein mit seinem Gewissen! Allein mit seiner Pflicht! Niemand kann mir raten! Niemand wagt es, ein Wort zu mir zu sagen. Der einsamste Mensch auf dieser Erde bin ich … vor eine Entscheidung gestellt, die mir niemand abnehmen kann, wie sie noch nie einem Menschen gestellt worden ist. Das ist der Zar, Wachterowskij: ein Nackter im sibirischen Eissturm.«
    »Gibt es keinen, der Ihnen einen Pelz umhängt?«
    »Nein!«
    »Darf ich es, Majestät?«
    »Nein! Halte Er sich da raus, Fjodor Fjodorowitsch. Ein tödliches Mitleid kann das werden. Ich möchte Ihn behalten. Was um mich herumkriecht, dieses Geschmeiß, es ekelt mich! Welch ein Tag ist heute! Die Welt und ich werden ihn nie vergessen.«
    Um acht Uhr morgens, am 26. Juni 1718, trafen in der Peter-und-Pauls-Festung der Zar, Fürst Menschikow, Fürst Dolgorukij, Admiral Apraxin, Kanzler Golowin, Vizekanzler Schafirow, General Buturlin – sie alle hatten das Urteil unterzeichnet – und einige andere Personen ein, begaben sich nach dem schnellen Verlassen ihrer Kutschen unverzüglich in die dunklen Gänge der Bastion Trubezkoj, und alle Türen wurden hinter ihnen verriegelt. Kurz darauf, so berichteten Bauarbeiter, die in der Nähe einen neuen Turm errichteten, gellten durch die vergitterten Fenster grauenvolle Schmerzensschreie, die nur von Alexej Petrowitsch kommen konnten. Aber auch sie verstummten sehr schnell, und dann lag eine bedrückende Ruhe über der Trubezkoj-Bastei.
    Um elf vormittags öffneten sich wieder die Tore, der Zar mit seinem Gefolge kam heraus, stieg ohne ein Zeichen von Erregung, Trauer, Entsetzen oder Betroffenheit in seine Kutsche und fuhr davon. Er sah aus wie immer … ein unbezähmbarer Riese in einfacher Handwerkerkleidung, mit kühlem Blick und dem Gang eines Seemannes.
    Zurückgekehrt ins Winterpalais aß er mit großem Appetit zu Mittag, trank hinterher Kwaß und zwei Gläser Anisbranntwein, und auch das Essen selbst war nichts Besonderes: eine Sauerkohlsuppe, kalter Braten mit Gurken und Pilzen, Kohlpiroggen und zum Abschluß der so geliebte Limburger Käse, dessen Größe er jedesmal mit einem Zirkel maß und sich notierte, weil er den Verdacht hegte, sein Küchenmeister Veiten nasche heimlich von diesem köstlichen, stinkenden Stück. An diesem Tag trank er sogar noch nach dem Kwaß und Branntwein zwei Gläser Tokajer, küßte der Zarin Katharina die Augen und ging in sein Arbeitskabinett. Den ganzen Nachmittag arbeitete er dort, gab Anordnungen für die am nächsten Tag geplanten Feierlichkeiten zum Jahrestag des glorreichen Sieges von Poltawa, bestimmte das Tedeum, das er wünschte, besprach in gütiger Laune einige

Weitere Kostenlose Bücher