Das Bernsteinzimmer
er war so schwer, daß Peter in diesen Minuten an seinen Tod glaubte. Erst der Zarewitsch, jetzt er … Gott strafte Rußland.
»Fjodor –« keuchte er, als er Wachter erkannte. »Fjodor, helf Er mir. Ich sterbe … ich sterbe … Gott hat mich verlassen … Mein armes Rußland …«
Er stützte sich auf Wachters Schulter, aber es war mehr ein Aufbäumen, ein Kampf gegen die Krankheit, und die ganze Last des Riesen lag auf Wachters Rücken. Er stemmte sich breitbeinig gegen das Gewicht, hatte das Gefühl, kleiner zu werden unter dieser Last, zusammenzuschrumpfen, die Knochen schoben sich ineinander, und mit letzter Kraft gelang es ihm, den Zaren gegen die Wand zu lehnen und sich gegen ihn zu drücken wie ein stützender Pfahl.
»Sie werden weiterleben, Majestät –« keuchte er dabei.
»Warum? Warum muß ich weiterleben?«
»Majestät haben noch so viele Pläne, um aus Rußland die stärkste Macht der Welt zu machen. Das müssen Sie noch erfüllen.«
»Und wenn ich es nicht mehr kann, Fjodor Fjodorowitsch?!«
»Sie können es, Majestät. Sie sind wie ein Fels … auch der Tod des Zarewitsch spaltet Sie nicht.«
Der Druck auf Wachters Schulter ließ nach, der Zar richtete sich auf, der Anfall ebbte ab. Mit schweißüberströmtem Gesicht, den Mund noch verzerrt, ein Zittern in den Händen schwankte er in das Bernsteinzimmer zurück, tastete sich an der Wand entlang, Halt suchend, und erreichte mühsam den geschnitzten Sessel. Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich auf den Sitz fallen und streckte die Beine weit von sich.
»Was weiß Er vom Tod meines Sohnes?« fragte Peter I.
»Nichts … nur daß er tot ist.«
»Und Er fragt mich nicht?«
»Ich möchte – wie Sie – weiterleben, Majestät.« Er holte aus der Rocktasche die Schriftrolle und hielt sie dem Zaren hin. »Das haben mir Fürst Menschikow und Kanzler Schafirow gegeben. Es bedarf noch Ihrer Unterschrift.«
»Menschikow. Schafirow! Sie waren hier?«
»Ja, ich habe sie weggewiesen. Ich wußte, daß Majestät allein sein wollten, ganz allein …«
»Eine gute Tat war das. Ich werde es Ihm danken.«
Der Zar rollte das Schriftstück auf und las den kunstvoll geschriebenen Text. Nicht mehr anzusehen war ihm der Anfall, die Krämpfe hatten seinen Körper verlassen. Ruhig, als sei's ein Tag wie jeder andere, mit gerunzelter Stirn und etwas geschürzten Lippen beendete er die Lektüre des Schreibens und blickte dann zu Wachter hoch.
»Er ist ein kluger Mensch, das weiß ich«, sagte der Zar. »Hör Er zu, was ich in aller Welt verbreiten lassen will:
›Bei der Verkündigung des Gerichtsurteils gegen Unseren Sohn schwankten Wir, sein Vater, zwischen dem naturgemäßen Erbarmen einerseits und der Sorge um die Sicherung des Friedens im Reiche andererseits. Wir konnten in dieser so schmerzlichen und schwerwiegenden Angelegenheit keine Entscheidung treffen. Aber der allmächtige Gott wollte Uns in seiner Güte aus Unseren Zweifeln befreien und Unser Haus und Unser Land vor der Gefahr und der Schande schützen. Er zerschnitt gestern, am 26. Juni, den Lebensfaden des Zarewitsch Alexej. Dieser erlag einer schweren Krankheit, die ihn bei der Verlesung des Todesurteils und der Liste seiner Verbrechen gegen Uns und den Staat befiel. Die Krankheit begann mit einer Art Schlaganfall. Dann kam er wieder voll zu Bewußtsein, beichtete, empfing die christlichen Sterbesakramente und bat Uns, ihn zu besuchen, was Wir auch, seine sämtlichen Übeltaten vergessend, begleitet von allen Unseren Ministern und Senatoren, taten. Er gestand aufrichtig seine Verbrechen gegen Uns, weinte viel und erhielt die Vergebung, die Wir ihm als Vater und Herrscher schuldeten. Am 26. Juni gegen sechs Uhr nachmittags starb er eines christlichen Todes …‹
Ist das gut so, Fjodor Fjodorowitsch?«
»Es ist klug aufgesetzt, Majestät … aber keiner wird es glauben.« Der Kopf des Zaren schnellte hoch, seine Augen sprühten wieder das gefährliche Feuer.
»Warum nicht?! Es ist die Wahrheit!«
»Wenn es die Wahrheit ist, will sie niemand glauben. Sie klingt zu einfach.«
»Ich habe geschrieben: ›… er zerschnitt den Lebensfaden‹. Ich habe geschrieben: ›… eine Art von Schlaganfall …‹ Und ich war bei ihm bis gegen elf Uhr morgens. Was ist da Lüge?!«
»Sie haben dem allmächtigen Gott alles zugeschoben. Er hat gerichtet, Sie von der Entscheidung befreit. Majestät, es klingt wie eine Flucht zu Gott.«
Der Zar starrte Wachter an, als sei er von ihm geschlagen worden. Zum
Weitere Kostenlose Bücher