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Das Bernsteinzimmer

Das Bernsteinzimmer

Titel: Das Bernsteinzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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erstenmal in seinem Leben wurde so mit ihm gesprochen, niemand hatte es je gewagt, ihn der Lüge zu bezichtigen, und wer bisher etwas Schlechtes über den Zaren gesagt hatte, war ausgepeitscht, gehängt, geköpft oder gerädert worden. Der Zar hatte immer recht – was er auch tat, es war gottgewollt.
    »Denkt so das Volk?« fragte er.
    »Ich befürchte es, Majestät.«
    »Und das sagt Er mir ins Gesicht?! Wachterowskij, hat Er keine Angst vor dem Pfählen?!«
    »Ich bin ganz in der Hand Ihrer Majestät. Urteilen Sie über mich … ich habe Ihnen versprochen, immer die Wahrheit zu sagen.«
    Der Zar ließ die Schriftrolle fallen und blickte auf die vom flackernden Kerzenschein erhellten Bernsteinwände. Das Zucken um seinen Mund begann wieder, aber neue Krämpfe folgten nicht. Mit leiser, stumpfer Stimme sagte er nur:
    »Sag Er, wird man mich vergleichen mit Iwan IV.? Iwan, den man den Schrecklichen nennt? Er erschlug seinen Sohn, den Zarewitsch Iwan, wirklich mit seinem eisenbeschlagenen Stock. Im Jahre 1582 war's … wird man nun sagen: Im Jahre 1718 wurde der Zar zu Peter dem Schrecklichen?«
    »Man wird Sie immer Peter den Großen nennen –«
    »Und wenn ich wirklich meinen Sohn getötet habe?!« schrie der Zar auf.
    »Sie bleiben ›der Große‹. Sie haben das alte Rußland in die Neuzeit geführt, und Sie werden Rußland noch mächtiger machen … wer wird da noch über Alexej Petrowitsch sprechen? Der Weg der Völker zum Licht war immer blutig. Wie starb der Zarewitsch … Majestät, das müssen Sie allein in Ihrer Seele tragen. Da sind Sie jetzt wirklich allein. Nur Gott kennt Ihre Seele.«
    »Er ist ein Philosoph … ein Volks-Philosoph. Welch ein Glück, daß ich Ihn mag! Alles, was Er jetzt gesagt hat, ist hundert Tode wert. Fjodor Fjodorowitsch … ich könnte Ihn zum Grafen machen.«
    »Was soll ich auf einem Gut, Majestät.« Wachter hob beide Hände, die Handflächen nach oben. »Erweisen Sie mir das Glück und die Ehre, bei dem Bernsteinzimmer bleiben zu dürfen und es zu pflegen. Was fange ich mit einem Grafen an ohne Bernsteinzimmer? Es gibt genug Bojaren, Grafen und Fürsten in Rußland, aber nur ein Bernsteinzimmer.«
    »Dann gebe ich Ihm tausend Rubel … und mein Vertrauen.«
    »Ich danke Euer Majestät.« Wachter ließ die Hände sinken und verneigte sich. »Das ist mehr als Fürst zu sein oder Metropolit.«
    »Dann also an die Arbeit!« Der Zar erhob sich, riesig, bärenstark. »Heute feiern wir den Sieg von Poltawa. Mit Kanonendonner, Glockengeläut, Tedeum, Schiffsparade, Musik und Tanz und dem größten Feuerwerk, das die Welt gesehen hat!«
    »Sollen wir Trauerkleidung tragen?«
    »Nein! Warum?« Der Zar sah Wachter strafend an. »Der Zarewitsch ist schuldig gestorben!«
    Er ließ Wachter stehen, ging an ihm mit dröhnendem Schritt vorbei, und auf der Treppe hörte man ihn kurz danach schreien, die Lakaien beschimpfen und die Wartenden wegscheuchen.
    Und die Feier fand statt, wie Peter befohlen. Man tafelte üppig in der Wandelhalle des Sommergartens, das gesamte Diplomatische Korps war anwesend, nachdenklich und wortkarg saß die Zarin am Tisch, während Peter nach allen Seiten scherzte und bester Laune war. Der Sekretär des Zaren, Menschikow, schrieb in sein Tagebuch: »Nach dem Essen ging man in den Garten Seiner Majestät hinunter, wo man sich sehr gut unterhielt.«
    Am klaren, sommerlichen Nachthimmel von Petersburg zerplatzten die Raketen und Feuerräder, die Sternenregen und Lichtergarben. Feurige Kaskaden stürzten aus dem Himmel, von allen Seiten donnerte und blitzte es, das größte Feuerwerk, das Peter je gegeben hatte … und zur gleichen Zeit wurde in der Trubezkoj-Bastei die Leiche des Zarewitsch gewaschen, angekleidet und in einen mit schwarzem Samt ausgeschlagenen Sarg gelegt.
    Ein Pope überwachte die Tätigkeit und betete um Vergebung, während die Raketen knallten und ganz Petersburg lachte und tanzte.
    »Der Horizont hat sich erhellt!« rief der Zar und schwenkte sein Glas, und alle jubelten ihm zu. Nicht einer wagte es, ein ernstes, trauriges Gesicht zu machen.
    Nur Wachter saß mit seiner Frau Adele und seinem Sohn Julius in einer Ecke der offenen Wandelhalle und sagte bedrückt:
    »Mich friert's, wenn ich sehe, wozu Menschen fähig sind …«
    Dann schloß er die Augen. Er konnte das Feuerwerk nicht mehr sehen, es genügte, wenn er es hörte.
    Es war so, wie es Wachter gesagt hatte: Die kommenden Jahre sahen das Aufsteigen Rußlands zur Weltmacht, niemand sprach

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