Das Bernsteinzimmer
Kronprinz sei, und er sicherte ihm sogar zu, daß er seine Mätresse Afrosinja heiraten könne. Die Anhänger des Zarewitsch, die Grafen Tolstoj, Rumjanzew und Wesselowskij warnten ihn, aber allein die Aussicht, seine über alles Geliebte als Zariza zu sehen, zerstreute bei Alexej alle Bedenken. Er ließ Afrosinja in Venedig zurück und freute sich auf die Umarmung mit seinem ihm vergebenden Vater.
Die Wahrheit erfuhr er sofort, nachdem er die russische Grenze überschritten hatte. Kosaken kreisten die Kolonne ein und brachten alle nach Twer bei Moskau, wo sie erfuhren, daß der Zar sie in Moskau sprechen wolle.
Vor seiner Fahrt nach Moskau saß der Zar wieder eine Stunde allein im Bernsteinzimmer und sprach mit sich selbst. Dann holte er Wachter herein, umarmte ihn und sagte mit dumpfer Stimme: »Ein schwerer Gang steht mir bevor. Die Welt wird mich ein Ungeheuer nennen, aber Rußland und sein Weiterleben zwingen mich dazu. Ich allein bin verantwortlich für mein Volk!«
Am 3. Februar 1718 fand im großen Audienzsaal des Kreml von Moskau in Gegenwart der höchsten Würdenträger des Reiches der erste Prozeß gegen den Zarewitsch und seine Freunde statt. In einem kurzen Vorgespräch sicherte der Zar seinem Sohn große Gnade zu, wenn er die Verräter und Mitverschworenen beim Namen nenne. Sonst – und das war klar gesagt – gab es Folter bis zum Tod.
Alexej, der Schwächling, der Säufer, Spieler, Hurer und Verräter, brach zusammen, warf sich, unter Tränen, dem Zaren zu Füßen und nannte Namen … viele Namen, große Namen, von Peters Halbschwester, der Zarewna Maria Alexejewna bis zu Fürst Wassilij Dolgorukij, von Fürst Juri Trubetzkoj bis zum Fürsten von Sibirien, selbst seine eigene Mutter, die frühere Zarin Jewdokija, verschonte er nicht.
Eine Untersuchung jagte die andere, die Verhafteten füllten die Verliese, gestanden unter grausamen Foltern ihre Kontakte zu Alexej, was dem Zaren genügte, und am 22. März sprach man die Urteile.
Der Zar selbst war dabei, als am 26. März 1718 auf dem Roten Platz vor der Kremlmauer die Hinrichtungen stattfanden. 300.000 Zuschauer waren gekommen, um diesem grausigen Schauspiel beizuwohnen … dem Enthaupten und Aufhängen, dem Rädern und Pfählen, dem Zu-Tode-Peitschen und dem Tod durch glühende Eisen. Ein Abschlachten war's, vor dem die übrige Welt erschauderte.
Gleich nach den Hinrichtungen fuhr Peter I. nach Petersburg zurück. Alexej, den Zarewitsch, nahm er mit. Er saß neben seinem Vater im Schlitten, unterwürfig, dankbar, nicht so bestraft zu werden wie seine Freunde und seine eigene Mutter, die der Zar auspeitschen und in ein fernes Kloster bringen ließ.
»Es ist geschehen!« sagte der Zar, als er zwei Tage nach seinem Strafgericht in Moskau wieder im Bernsteinzimmer saß und umgeben von dem Sonnenstein seine innere Ruhe wiederzufinden suchte. »Fjodor Fjodorowitsch, nur der Anfang war's. Erinnert Er sich noch an meine Worte? Habe ich Freunde? Mein eigener Sohn gehört an den Galgen. Aber kann ich das? Steck ich ihn in ein einsames Kloster … neue Verräter und der Pöbel werden ihn befreien. Nie kommt mein Land zur Ruhe. Gott, was soll ich tun?!«
Am 15. April 1718 traf die Geliebte des Zarewitsch, die angebetete Hure Afrosinja, in Petersburg ein. Voll Ungeduld wartete Alexej darauf, sie in die Arme nehmen zu können, aber anstatt sie zu ihm zu bringen, schloß man sie sofort in eine Zelle der Peter-und-Pauls-Festung ein. Ihr Gepäck wurde durchsucht, und man fand, eingenäht in einen Kleidersack, zwei Briefe, die Alexej von Neapel aus geschrieben hatte: an den russischen Senat und an die Erzbischöfe der russisch-orthodoxen Kirche. Briefe, die eindeutig bewiesen, daß der Zarewitsch nur auf den Sturz seines Vaters wartete, um sich als neuer Zar krönen zu lassen.
Mit versteinertem Gesicht las Peter diese Schriftstücke. Von neuem zog er sich allein ins Bernsteinzimmer zurück, las immer wieder die Zeilen seines Sohnes und drückte dann die Stirn hilflos gegen eine der Wandtafeln, als könne ihn der Bernstein aus seinem Millionen Jahre alten Leben einen Rat geben.
Am 14. Juni 1718 eröffnete der Zar im großen Senatssaal mit einem Gottesdienst die Gerichtsverhandlung gegen seinen Sohn. 127 Würdenträger bildeten das weltliche Gericht; drei Metropoliten, fünf Bischöfe, vier Archimandriten und eine große Zahl anderer hoher Kirchenherren stellten das geistliche Gericht dar. Der Zar selbst führte die Anklage und verhörte den
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