Das Bernsteinzimmer
voraussah.
Kuriere jagten auf den besten Pferden von Station zu Station nach Berlin, zu Dr. Stahl, und nach Leiden in Holland, zu Dr. Boerhaave, mit einem Schreiben, in dem Dr. Blumentrost in heller Verzweiflung um Hilfe oder auch nur einen Rat bat.
Zu spät, alles zu spät. Noch einmal kam die große Qual über den Zaren, als am 23. Januar der englische Chirurg Dr. Horn unter Beratung des italienischen Arztes Dr. Lazarotti einen Blaseneinstich vornahm und die Blase entleeren konnte. Ein Zeuge dieser Operation, der französische Gesandte Campredon, der einige Pariser Ärzte empfehlen wollte, schrieb in sein Tagebuch: »Man entnahm ihm vier Liter Urin. Er stank entsetzlich und war vermischt mit Gewebeteilen.«
Das Ende?
Nein. Erleichtert von dem Harndruck, aß der Zar einige Löffel Hafergrütze, schlief eine Stunde, wachte dann erfrischt auf und sprach ein paar Worte mit dem Herzog von Holstein. »Sobald ich gesund bin, fahren wir gemeinsam nach Riga«, sagte er mit verhaltener Stimme. Und zu Katharina, die neben seinem Bett saß, Tag und Nacht, in einem Sessel schlief und Peters Stirn trocknete, sein Gesicht wusch, ihn festhielt, wenn wieder ein Krampf seinen Körper durchschüttelte, die weinte und schluchzte, wenn ihn die Schmerzen hochwarfen, und die mehrmals in Ohnmacht fiel, als die Operationen an dem Zaren vorgenommen wurden, sagte er:
»Kathinka, mein Seelchen, mein Paradies … weine nicht. Meine Zeit ist noch nicht gekommen. Sieh, wie gut es mir wieder geht …«
Entsetzen verbreitete sich im Krankenzimmer. Peter I. richtete sich auf, klammerte sich an Dr. van Rhijn fest und stieg aus dem Bett. Er stand, ein Riese wie immer, auf seinen säulenartigen Beinen, die noch mächtiger wirkten durch den Wasserstau, und versuchte einige Schritte. In seinem Unterleib brannte ein Feuer, aber nicht ein Muskel zuckte in seinem Gesicht.
»Zum Bernsteinzimmer«, sagte er. »Ich will –«
»Unmöglich, Majestät.« Die Ärzte starrten erbleichend auf den Zaren. Katharina hielt ihn an seinem Nachtrock fest. Die Prinzessinnen Anna und Elisabeth schluchzten laut. Menschikow, der immer anwesend war, lauernd wie ein gejagter Fuchs, jedes Zucken registrierend, jeden weiteren Verfall bemerkend, trat ihm in den Weg.
»Wahnsinn ist das, was Sie tun«, sagte er. »Gehen Sie zurück ins Bett, Pjotr Alexejewitsch …«
»Wer ist hier der Zar?!« brüllte Peter plötzlich mit altgewohnter Stimme. »Wer? Noch bin ich es! Noch lebe ich! Und länger werde ich leben als euch allen lieb ist!«
Er wollte weitergehen, aber er wäre gefallen, wenn Dr. van Rhijn und Dr. Blumentrost ihn nicht festgehalten hätten. Der Zar senkte den Kopf.
»Bringt ihn zu mir«, sagte er matt. »Ich will Fjodor Fjodorowitsch sehen. Meinen Bernsteinwächter. Holt ihn und laßt mich mit ihm allein. Allein, sage ich. Kein Medicus, nicht du Halunke, Menschikow, auch Katharina nicht. Allein …«
Der Befehl des Zaren flog von Mund zu Mund, von Lakai zu Lakai, bis hinauf zum Bernsteinzimmer. »Er soll zum Zaren kommen!« sagte ein Diener zu Wachter, der wie immer mit einem Lederlappen die Bernsteintafeln blank putzte. »Sofort!«
Als Wachter in das Krankenzimmer trat, von den Anwesenden wie ein seltenes Tier bestaunt, denn nur wenige kannten ihn, den stillen Mann irgendwo im Winterpalast, verließen alle den Raum, als letzte Katharina mit einem langen Blick auf den seltsamen Vertrauten ihres Mannes.
Der Zar wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, und winkte dann Wachter zu sich ans Bett. Er saß auf der Bettkante, hatte die Finger der rechten Hand in die Decken gekrallt und atmete schwer. Die Schmerzen zerstörten ihn, er schien von innen zu verbrennen.
»Nun ist's soweit«, sagte er mit mühsam fester Stimme. »Fjodor Fjodorowitsch, es heißt Abschied nehmen. Ich weiß, wie es um mich steht, aber ich täusche sie alle. Ihre gierigen Blicke sehe ich: Wer wird der neue Zar?! Wer erbt mein Reich?! Wer bleibt als Günstling am Zarenhof? Wen ereilt der Bannfluch? Wer wird in Zukunft die Rubel scheffeln? Wer von uns kann das Volk aussaugen? Geschmeiß alles, alles Geschmeiß! Wachterowskij – was wird nach mir aus Rußland? Weiß Er darauf eine Antwort? Was wird … das ist meine einzige Sorge, das schreckt mich, nicht der Tod. Wem kann ich noch vertrauen? Menschikow? Er ist der genialste Schuft von allen. Tolstoj? Ein Arschkriecher! Apraxin? Denkt nur an seine Karriere. Golowin? Ein Wolf, der mir die Hand leckt! Ich dürfte gar nicht sterben, ich
Weitere Kostenlose Bücher