Das Bernsteinzimmer
müßte ewig leben, für mein Rußland leben … aber Gott ruft den Menschen früher oder später zu sich. Bei mir ist es zu früh, und kein Bereuen hilft mehr.« Er krallte wieder vor Schmerz die Finger in die Decken, und sein Gesicht schien sich aufzulösen. »Sag Er mir die Wahrheit wie immer, Fjodor Fjodorowitsch: Muß ich jetzt schon wirklich sterben?«
»Ja, Majestät. Die Kunst der Ärzte hat ein Ende. Mein Sohn Julius sagt es auch.«
»Er ist also doch ein Medicus geworden, hinter meinem Rücken?«
»Er hat noch nicht studiert. Er lernt bei Dr. van Rhijn, sieht ihm zu, assistiert ihm … Verzeiht ihm, Majestät.«
Der Zar nickte. Ein Schmerzanfall vernichtete für Minuten seine Stimme. Dann, nach einem röchelnden Atemholen, sagte er schwach: »Das Bernsteinzimmer sehe ich nie wieder. Mein geliebtes Kabinett, mein Beichtzimmer, der Ort, an dem ich mit meiner Seele sprechen konnte. Nie mehr! Wachterowskij –«
»Majestät.« Wachter trat näher und stand jetzt dicht vor dem keuchenden Zaren.
»Wagt Er etwas Ungeheures, wenn Sein Zar es wünscht? Nicht befiehlt … er wünscht es. Beschädigt Er das Bernsteinzimmer?«
»Ich … ich weiß es nicht …«, antwortete Wachter stockend. Der Gedanke, das Bernsteinzimmer zu beschädigen, lag ihm so fern wie die Sterne.
»Ein Stück will ich haben. Ein kleines Stück nur. Brech Er mir etwas aus den Wänden … eine kleine Girlande, ein Köpfchen, ein Blatt, eine Blume … irgend etwas. Ich will es auf meine Brust legen, wenn ich sterbe. Nur ein kleines Stück aus meinem Zimmer … ein kleiner Strahl des Sonnensteins.«
»Ihr Wunsch wird erfüllt werden, Majestät«, sagte Wachter mit trockener Kehle. »In der Tafel vier gibt es einen kleinen Engelskopf … ihn breche ich heraus.«
»Ein Engel!« Der Zar ließ sich nach hinten sinken. Wachter sprang hinzu, stützte ihn, legte ihn ins Bett und breitete die Decken über ihm aus. »Ein kleiner Engel fliegt mit mir in die Ewigkeit. Fjodor Fjodorowitsch, die Welt wird es nie erfahren, sie wird nur Menschikow, Apraxin, Buturlin, Tolstoj, Schafirow und all die anderen Marionetten kennen … Er aber ist mein wahrer Freund. Gott segne Ihn und Seine Familie …«
Wachter beugte sich über den Zaren, küßte seine Hände, sah ihm tief in die graugrünen Augen und erkannte in der Tiefe den Tod.
Als er die Tür öffnete, stürzten an ihm vorbei sofort Katharina und Menschikow ins Zimmer. Erst dann folgten die Ärzte. Keiner richtete ein Wort an Wachter, der stumm an der Tür stand und sie beobachtete.
Die Wölfe stürzen sich auf ihr Opfer, dachte er. Die Aasfresser formieren sich. Zu lange dauert ihnen das Sterben des Zaren. Er stirbt nur Stück um Stück, Stunde um Stunde und lebt euch zu lange. Armer Zar, du hast recht, zu schreien: Was wird aus Rußland?!
Er stieß sich von der Tür ab, ging hinauf in das Bernsteinzimmer, holte aus dem Werkzeugkasten einen kleinen Hammer, einen dünnen Meißel, eine Zange und ein festes Messer, betrachtete den kleinen Engelskopf in der vierten Wandtafel und begann dann, ihn vorsichtig herauszubrechen.
Der Zar erhielt den Engel nicht. Am gleichen Tag, am Abend, schrie er wieder vor Schmerzen, beichtete und kommunizierte, streckte die Arme nach Katharina aus, umklammerte ihre Hände und stöhnte: »Wie schlecht geht es mir. Wie schlecht. Ein Haus drückt auf meine Brust … Katherinuschka, nimm mir das Haus von der Brust.«
Drei Tage quälte er sich, und kein Arzt konnte mehr helfen. Sie wußten nur eins: Die Blase war vom Wundbrand befallen, der Unterbauch war mit Eiter gefüllt, der Schließmuskel der Blase war zu einem steinharten Verschluß geworden, der keinen Tropfen mehr durchließ. Der Zar verfaulte von innen, während er noch sprach, in hellen Momenten sogar diktierte, Begnadigungen und Verzeihungen aussprach und mehrmals die Sterbesakramente empfing.
Was wird nach mir aus Rußland …
Am 26. Januar – in Petersburg waren alle Kirchen geöffnet, Tausende beteten für den Zaren, die Glocken läuteten und riefen Gott zu Hilfe – warfen die Krämpfe den Zaren so hoch, daß er fast aus dem Bett gefallen wäre. Katharina und seine Tochter Anna hielten ihn fest, im Palast versammelten sich alle Minister, Senatoren, Generäle und die höchsten Beamten, um die Nachricht des Todes zu erfahren. Menschikow, Tolstoj und Buturlin saßen in einem Nebenzimmer zusammen und berieten kühl über die Nachfolge Peters I. Nicht Peter, der Sohn des hingerichteten Zarewitsch Alexej, sollte
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