Das Bernsteinzimmer
Bernsteinzimmer, am 26. Januar 1725 hinterlassen hatte, als er den kleinen Engelskopf aus dem Getäfel brach, um ihn Zar Peter dem Großen mitzugeben in die Ewigkeit.
Ein Anblick war's, der Jana den Atem stocken ließ. Sie hörte nicht, daß jemand die Treppe heraufgekommen war, sie merkte nicht, daß neben ihr die Tür aufging, da der Türflügel diese verdeckte, und jemand ins Zimmer kam. Aber dann wurde sie zerrissen wie von einer Explosion, an die Wand mußte sie sich lehnen, krallte die Fingernägel in den bröckelnden Verputz und spürte keinen Herzschlag mehr.
Neben ihr, in der Tür, erklang ein Aufschrei. Ein so wilder, das Herz zerreißender Aufschrei, der auch ihr Blut fast erstarren ließ.
»Vater! Vater! O mein Gott – Vater!«
Wachter stand starr und schwankte. Die Gestalt in der Tür stürzte zu ihm, fing ihn auf, drückte ihn an sich, schlug die Arme um ihn, vergrub sein Gesicht am Hals des alten Mannes und rief wieder: »Vater! Vater!«
Und seinem Aufschrei folgte endlich, endlich der zitternde Schrei des Alten:
»Nikolaj! Kolka! Kolka! Mein Söhnchen … mein Söhnchen …«
Und dann sank Wachter in sich zusammen, nur noch gehalten von den Armen seines Sohnes, und er weinte, weinte, ließ sich auf die Knie fallen, faltete die Hände und hob sie empor zum Himmel, und die Tränen überströmten sein Gesicht, liefen in seine zitternden Lippen, sagen wollte er etwas, irgend etwas sagen, Nikolaj oder danke, danke, Gott. Und er sah seinen Sohn an, dieses reifer gewordene Gesicht, einen kurzen Bart trug er, aber er hatte noch die blonden Locken seiner Mutter, ihre blauen Augen. Sein Sohn, sein Sohn, nicht im Grabe lag er, er sah ihn, er fühlte ihn, seine Hände, seinen Atem. Nebeneinander knieten sie am sägemehlbestreuten Boden, hatten die Arme umeinandergeschlungen und küßten sich und zerflossen im Glück und fanden keine anderen Worte mehr als Söhnchen und Vater …
Noch immer knieten sie auf dem Boden und hielten sich umfangen, als Nikolaj mit zitternder Stimme fragen konnte:
»Väterchen, was ist aus Jana geworden? Hast du etwas gehört von Janaschka …«
Da erst begriff Wachter, daß Jana hinter dem offenen Türflügel stand, hob den Arm und zeigte stumm über Nikolajs Schulter. In diesem Augenblick stieß sie sich von der Wand ab. Auch sie brach in einen hellen, zitternden Schrei aus. »Nikolaj, mein Liebling, mein Herz, mein Himmel!« schrie sie, stürzte auf ihn zu mit ausgebreiteten Armen und fiel dem Aufspringenden an die Brust.
»Nun endlich ist Frieden«, sagte Wachter und hatte seine Stimme wieder in der Gewalt. Über die Köpfe Janas und Nikolajs streichelte er und wunderte sich, daß vorhin sein Herz nicht einfach zersprungen war. »Nun sind wir wieder zusammen.«
»Laß uns ein Weinchen trinken.« Nikolaj legte seine Arme um Jana und seinen Vater. »Gefunden im Keller habe ich noch zwanzig Flaschen. Stellt euch das vor. Freuen wirst du dich, Väterchen. Der Tisch und die Stühle sind noch da, und auch dein geliebtes geschnitztes Sofa. Eigentlich ist alles so wie früher, wenn man nicht aus den Fenstern schaut.«
Es war das zweitemal, daß Wachter seinen Kopf an die Schulter seinen Sohnes legte.
»Du … du bist der neue Verwalter?« fragte er mit pfeifendem Atem.
»Selbstverständlich, Väterchen. Ein Wachter gehört hierher! Gibt's etwas anderes? Sofort nach der Befreiung Puschkins bin ich zurückgekommen. Aufgeräumt habe ich und in hundert Richtungen nach euch gefragt. Verschollen sind sie, hieß es überall. Aber ich habe immer gehofft und gehofft …«
»Mein tapferes Söhnchen …« Wachter biß die Lippen zusammen, um ein neues Schluchzen nicht freizulassen. Und dann sagte er wie eine Anklage gegen sich selbst: »Ich habe das BernSteinzimmer verloren. Bei ihm war ich, bis der Luftangriff kam. Getrennt haben sie mich von ihm, und ich wußte es nicht.«
»Seine Schulter haben sie ihm zerschossen, Kolka. In ein Lazarett habe ich Väterchen gebracht, sonst wäre er gestorben.« Jana Petrowna sah Nikolaj wie um ein Urteil bittend an. »War's ein Fehler, Nikolaj? Hätte ich bei dem Zimmer bleiben müssen? Väterchens Leben war mir mehr wert in diesen Stunden. Meine Schuld ist's.«
»Alles war richtig, Janaschka.«
»Und diese Wände –« Wachter machte eine weite Handbewegung, – »bleiben kahl! Aber eine Spur gibt es, eine Spur … Söhnchen.«
»Wir werden alle sammeln, Vater. Wir werden das Bernsteinzimmer wiederfinden. Nun kommt, laßt uns den Wein trinken
Weitere Kostenlose Bücher