Das Bernsteinzimmer
… die Kehle ist mir pulvertrocken, geweint haben wir, daß wir ausgeleert sind.«
Die Arme um die Schultern gelegt, gingen sie hinüber zum Verwaltertrakt und betraten die Wohnung. Wie früher war es, vor dem Sofa stand ein kleiner Hocker, auf den Wachter seine müden Beine legte, wenn er von den Schloßführungen zurückkam.
»Zu Hause«, sagte er, zog den Rock aus, setzte sich auf das Sofa, streckte die Beine aus und legte sie auf den Hocker. »Kinderchen, ich bin zu Hause. Wenn ich jetzt mein Pfeifchen hätte …«
»Auch die ist da.« Nikolaj lachte, holte aus dem Schrank die alte gebogene Pfeife und hielt sie Wachter hin. »Nur der Tabak, Väterchen, ist schlechter geworden.«
Ein Sommerabend in Puschkin … wie ein roter Ball versank die Sonne im Park.
Die schönsten Pläne sind abhängig von den Gegebenheiten. Man kann nicht ein volles Netz Fische aus dem Meer ziehen, wo keine Fische sind; man kann eine geliebte Frau nicht in seine Arme ziehen, wenn sie nicht will; man kann kein Haus bauen, wenn man kein Grundstück hat, auf dem es stehen soll, und man kann nicht kreuz und quer durch Deutschland ein Bernsteinzimmer suchen, wenn die staatlichen Organisationen andere Dinge für wichtiger halten.
Die Sonderkommission für die Rückführung geraubter Kulturgüter in Moskau war zwar gegründet worden, eine Außenstelle wurde in Leningrad eingerichtet, ein Berg von Dokumenten wurde gesammelt, aber sie führte ein Schattendasein im allgemeinen großen Aufbau des zerstörten Landes. Die Deutschen waren zwar besiegt, sie hungerten jetzt, räumten ihre Ruinenstädte auf, aber die Behörden arbeiteten wieder und ein ungeheurer Lebenswille durchzog das Land. Sogar demokratische Parteien wurden gegründet, Namen wie Adenauer, Schumacher, Hundhammer und Heuss tauchten auf, das zerstörte Deutschland pumpte sich wieder mit Leben voll … wohingegen einer der Sieger – Rußland – die schrecklichen Wunden des Krieges so schnell nicht schließen konnte. Die Verluste an Menschen und Material, über 12 Millionen Tote allein, waren zu hoch, und man sah sich plötzlich isoliert, denn die Kampfgefährten von gestern waren zu den politischen Feinden von heute geworden. Die beiden Gesellschaftssysteme – Sozialismus und Kapitalismus – prallten wieder aufeinander. Verbündete im Kampf gegen Hitler-Deutschland ja … aber niemals ein Zusammenleben mit dem Kommunismus. Der Vorhang fiel wieder zwischen Ost und West, der Eiserne Vorhang, Rußland stand allein in seinem verbrannten Land.
Michael Wachter, Nikolaj und Jana waren nach Leningrad gefahren, waren wie Helden empfangen worden. Es gab zahllose Umarmungen mit den Museumsdirektoren, den Stadtverordneten und Parteifunktionären, und für einen Tag war Wachter es wert, in den Zeitungen genannt zu werden, sogar mit Bild und einem Zitat: »Ich werde nie aufhören, das Bernsteinzimmer zu suchen!« Aber so schnell und gründlich, wie der Wind den Staub vor sich herbläst, verwehten auch Wachters Name und sein 24-Stunden-Ruhm.
Die Leningrader Abteilung der Moskauer Sonderkommission hörte sich Wachters Bericht an, nahm ein genaues Protokoll auf und zeichnete auf einer Deutschland-Karte den mutmaßlichen Weg des Bernsteinzimmers ein: von Königsberg nach Berlin, von Berlin nach Schloß Reinhardsbrunn, vom Schloß in das Bergwerk Kaiseroda II/III bei Merkers in Thüringen, von Merkers, sehr umstritten, nach Frankfurt und auf diesem Wege bei Alsfeld verschwunden. Der Name Fred Silverman wurde rot unterstrichen als der wichtigste Zeuge.
»Sehr interessant das alles, Genosse Wachterowskij«, sagte der Vorsitzende der Sonderkommission nach den langen Gesprächen und Aufzeichnungen. Er war ein Kunsthistoriker, hieß Pawel Leonidowitsch Agajew, hatte ständig Hunger, und seine gelblichen Augäpfel wiesen auf einen schlechten Zustand von Galle und Leber hin. Wenn er einen Satz von mehr als zehn Worten sprach, begann er zu hüsteln. »Wir werden das alles nachforschen. Aber im Augenblick …«
»Sie sehen Schwierigkeiten, Genosse Agajew?« fragte Wachter betroffen.
»So ist es, mein lieber Michail Igorowitsch. Gemeinsam haben wir den Krieg gewonnen, aber mit dem letzten Schuß ist auch die Freundschaft wie weggeflogen.« Bitterkeit klang in seiner Stimme, und er hüstelte wieder stark.
»Sie sollten die Verbindung zu Captain Silverman herstellen«, sagte Nikolaj. Agajew sah ihn gequält an.
»Unmöglich. Sag ich's doch … die Freundschaft mit den Amerikanern ist eingefroren. Von
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