Das Beste aus 40 Jahren
verlassen.
Sie blickte noch einmal zurück, und ein Kloß steckte plötzlich in ihrer Kehle. War Gemma tot? War dieser unbezähmbare Geist ausgelöscht für immer? War das, zum Teil, der Grund für Manoels Erbitterung?
Sie legte die Arme um das Steuer und starrte blicklos ins Leere. Gemma hatte zu jenen Menschen gehört, die scheinbar unsterblich waren, die Einzige des St.-Salvador-Clans, die ihr mit Güte und Herzlichkeit entgegengekommen war. Sie hatte alterslos gewirkt, schien der Zeit zu trotzen. Die Erkenntnis, dass sie nicht mehr hier sein könnte, um ihr den Rücken zu stärken, ließ Dianne wünschen, sie hätte die Reise nie unternommen.
Verzweifelt blickte sie sich um. Was sollte sie tun? Umdrehen oder weiterfahren und das Risiko auf sich nehmen, Manoels Frau zu begegnen? Jenem Mädchen, das aus seiner Abneigung gegen sie, die Engländerin, nie ein Hehl gemacht hatte und das nach Meinung von Manoels Mutter so gut zu ihm passte, weil die Ländereien seines Vaters an die des Mas St. Salvador grenzten.
Dianne startete den Motor und zwang sich, an Jonathan zu denken. Seinetwegen war sie hier, für ihn wollte sie jede Demütigung in Kauf nehmen.
Das Land zu beiden Seiten der Straße war jetzt weniger sumpfig, und in der Ferne stand, von einem Wäldchen umgeben, eine Häusergruppe. Kleine, von Schilf umwachsene Seen funkelten in der Sonne, doch weit und breit war kein Mensch zu sehen. Sie schien in dieser grenzenlosen Weite ganz allein zu sein.
Wieder hielt sie an, kletterte auf die Motorhaube, beschattete die Augen mit der Hand und blickte in die Ferne. Weit draußen am Horizont nahm sie eine undeutliche Bewegung wahr, und sie strengte sich an, um zu erkennen, was es war.
Das Bild nahm feste Umrisse an, Männer und Pferde tauchten auf – die berühmten Gardiens der Camargue, die Vieh- und Pferdeherden hüteten, wie seit vielen, vielen Jahren.
Als sie näher kamen, sah Dianne, dass sie eine Viehherde vor sich hertrieben, kräftige, schwarze, furchterregende Tiere. Rasch kletterte Dianne von ihrem Ausguck hinunter und stieg in den Wagen, der ihr wenigstens einigermaßen Schutz gewährte.
Auf dem Mas St. Salvador – Mas ist der provenzalische Ausdruck für ein Hofgut – züchtete man spanische Stiere für die Corrida; nicht die kleineren, weniger kräftigen, in der Camargue heimischen Tiere, die hauptsächlich im Course libre ihre Kämpfe bestehen. Als Dianne vor drei Jahren hier gewesen war, hatte sie gelernt, dass die Corrida eine Art von Barbarei war, bei deren Anblick man sich fragte, ob sich die Zivilisation seit den Tagen der römischen Gladiatorenkämpfe überhaupt weiterentwickelt habe. Der Course libre hingegen war eine gemäßigtere, wenn auch nicht minder gefährliche Form des Stierkampfes, ein Sport, bei dem die Stiere am Leben blieben und sich zu weiteren Kämpfen stellen konnten. Trotzdem waren die spanischen Stiere die wertvollsten und teuersten. Manoels Vater führte den in dieser Gegend hoch angesehenen Titel Manadier. Auf jeden Fall schienen diese hochgezüchteten Tiere die wildesten, die Dianne je gesehen hatte. Man musste sie mit äußerstem Respekt behandeln und durfte ihre Unberechenbarkeit nie unterschätzen.
Die Herde wogte vorüber, ohne von ihr Notiz zu nehmen. Die Gardiens indessen musterten sie neugierig und fragten sich wohl, wer sie sein mochte und was sie auf St. Salvador’schem Land zu suchen hatte.
Einer der älteren Männer zügelte sein Pferd und ritt auf den Wagen zu. Er nahm den breitkrempigen Hut ab, der so sehr einem Cowboyhut aus dem amerikanischen Westen ähnelte. Dianne erkannte keinen der Männer und war verblüfft, dass einer sie ansprach.
„Bonjour, Mademoiselle“, sagte er höflich. „Was wünschen Sie?“
Dianne lächelte mit mehr Selbstsicherheit, als sie empfand. „Eh – wo ist Monsieur Manoel?“, fragte sie beiläufig.
Der Mann runzelte die Stirn. „Le patron, Mademoiselle – er ist nicht hier.“
Dianne biss sich auf die Unterlippe. „Nein, nicht der Herr, sondern Monsieur Manoel.“
„Monsieur Manoel ist der Herr“, entgegnete der Mann würdevoll.
Dianne starrte ihn ungläubig an. Manoel war sein ‚patron‘, sein Chef! Wo war dann Manoels Vater?
Aber selbstverständlich konnte sie eine so verräterische Frage nicht stellen. „Pardon, entschuldigen Sie, ich kenne die Familie nicht gut“, sagte sie daher mit einer hilflosen Geste.
Die Falten auf der Stirn des Mannes vertieften sich. „Sie sind Engländerin, Mademoiselle,
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