Das Beste aus 40 Jahren
fest, dass sich ihnen ein einsamer Reiter näherte. Zuerst dachte sie, es sei ein Junge, doch als der Reiter näher kam, sah sie, dass ihm eine Mähne goldblonden Haares über eine Schulter hing. Ein Mädchen also!
Dianne richtete sich beklommen auf, als das Mädchen sein Pferd zügelte und neben ihr anhielt. Auf den freudig erregten Ausruf, mit dem sie begrüßt wurde, war sie ganz und gar nicht gefasst.
„Dianne! Du bist es, Dianne! Was, in aller Welt, tust du hier?“
Dianne sah das Mädchen erstaunt an. Doch ihre abweisende Zurückhaltung hielt der unverhohlenen Freude nicht stand, die ihr aus dem jungen Gesicht entgegenstrahlte. „Louise“, sagte sie. „Guter Gott, ich habe dich kaum erkannt. Du warst ein Kind, als ich – als ich von hier fortging.“
Das Mädchen lachte mit ansteckender Fröhlichkeit. „Ich war vierzehn, Dianne, jetzt bin ich siebzehn. Was tust du hier? Kommst du zu uns? Willst du Großmutter besuchen?“
3. KAPITEL
Dianne war verwirrt. Mit dieser Entwicklung hatte sie nicht gerechnet, sie nicht vorhergesehen. Louises Freude war so aufrichtig, und sie wusste kaum, was sie ihr antworten sollte. Sie wandte sich an den Gardien, der, nachdem er das Seil von der Stoßstange losgebunden hatte, wieder in den Sattel stieg, und bedankte sich herzlich bei ihm.
Das gab ihr einen Augenblick Zeit zu überlegen, unter welchem Vorwand sie sich so schnell wie möglich von Louise verabschieden konnte. Doch als der Mann davonritt, erinnerte sie sich an etwas, das Louise gesagt und das sie in ihrer Verwirrung zunächst nicht erfasst hatte.
„Du – du hast Großmutter gesagt?“, fragte sie erstaunt. „Meinst du – meinst du Gemma?“
„Selbstverständlich.“ Louise lächelte jetzt nicht mehr. „Du wolltest doch nicht wieder abreisen, ohne sie zu sehen?“
Dianne schüttelte hilflos den Kopf. „Ich – ich habe den Wohnwagen gesehen“, murmelte sie. „Ich dachte –“ Sie zuckte mit den Achseln. „Nun, egal. Ich – schau, Louise, ich bin nicht hier, um euch zu besuchen.“ Sie machte eine Pause. „Du bist doch gewiss schon alt genug, um zu begreifen, dass ich auf dem Mas kein willkommener Gast wäre.“
Louises Blick verdunkelte sich. „Großmutter bekommt so selten Besuch“, sagte sie traurig. „Warum bist du hier, Dianne? Ich dachte, Manoel hätte gestern Abend mit dir gesprochen.“
Dianne runzelte die Stirn. „Das weißt du?“
Louise zuckte mit den Achseln. „Aber selbstverständlich“, erwiderte sie, „ich habe am Telefon sofort deine Stimme erkannt. Und ich habe Manoel gesagt, dass du hier sein müsstest.“
Dianne ballte die Hände. „Und – und wissen alle, dass ich hier bin?“
Louise schnitt eine Grimasse und stieß mit dem Fuß nach dem struppigen Gras. „Oh nein“, entgegnete sie leichthin, „nicht alle. Nur Manoel und ich.“
Dianne biss sich auf die Unterlippe. „Sag mir noch eins, Louise. Ist – ist dein Vater nicht mehr auf dem Mas?“
„Papa ist tot“, sagte Louise traurig. „Er starb vor zwei Jahren. Manoel ist jetzt für die Manade verantwortlich. Das hier ist sein Gut, das sind seine Stiere.“
Dianne blickte verwundert vor sich hin. „Das wäre mir nicht im Traum eingefallen“, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu Louise. „Deine Mutter lebt aber mit Manoel auf dem Mas, nicht wahr?“, setzte sie dann hinzu.
Louise nickte. „Natürlich. Sie und Yvonne.“
In Diannes Magen wurde ein Messer herumgedreht. „Oh ja, Yvonne“, sagte sie mühsam.
„Dianne. Wie ist es dir ergangen? Unterrichtest du immer noch?“ Louise sah sie forschend an. „Du bist dünner geworden.“
Dianne presste die Lippen zusammen. „Oh ja“, antwortete sie tonlos, „ich unterrichte immer noch. Und du? Bist du mit der Schule fertig?“
„Manoel will mich in eine Schweizer Internatsschule schicken, aber ich mag nicht dorthin. Mir gefällt es hier viel zu gut. Ich begreife einfach nicht, warum er mich fortschicken will, sehe den Grund nicht ein. Nur, weil er das Leben so unmöglich findet.“ Sie warf Dianne einen kurzen Seitenblick zu. „Du weißt doch, dass Yvonne einen schweren Unfall hatte?“
„Nein“, erwiderte Dianne rasch. „Was ist passiert?“
Louise zuckte mit den Achseln. „Sie wurde von einem Stier auf die Hörner genommen und ist seither von der Hüfte abwärts gelähmt.“
Dianne stöhnte leise vor Entsetzen. Louise sagte das so kaltblütig, so obenhin. Beinahe so, als sei sie der Meinung, Yvonne habe es nicht anders
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