Das Beste aus meinem Leben
Raum‹.«
»Großstadtkompetenz…«, kicherte ich. »Das hast du erfunden.«
Sie reichte mir den Reiseteil. Tatsächlich: »Großstadtkompetenz.« Mit der Studie, las ich, seien Forscher widerlegt worden, die stets behauptet hätten, Frauen könnten sich in fremden Städten nicht so zurechtfinden wie Männer. Offensichtlich war mir bisher entgangen, dass sich Scharen von Wissenschaftlern mit nichts als der großen, wichtigen Frage beschäftigten, welches Geschlecht großstadtkompetenter sei.
»Und wenn wir ein Lokal betreten«, sagte Paola, »lässt du immer mich vorgehen. Und warum? Du hast Angst, dass alle Tische besetzt sein könnten. Und mich lässt du dann fragen, ob wir uns irgendwo dazusetzen könnten.«
Ich sagte: »Weil ich eben schüchtern bin. Außerdem können Frauen so was besser fragen. Wenn ein Mann fragt, hat es was Aggressives. Das sind archaische Dinge. Der Mensch ist ein Tier, und fressende Tiere zu stören, ist eine heikle Angelegenheit. Sie fürchten leicht, man wolle ihnen das Futter wegnehmen.«
»Schon wieder gibst du was nicht zu«, sagte sie. »Du hast Angst, die Leute könnten dich von oben bis unten mustern und sagen: ›Ach, nee, Sie möchten wir hier nicht haben‹.«
»Nee«, sagte ich, obwohl sie recht hatte.
»Doch«, sagte Paola.
Sie wusste, dass sie recht hatte.
»Nee«, sagte ich.
»Wann fahren wir mal wieder in eine fremde Stadt?«, fragte sie.
Ich murmelte: »Bald besprechen.«
Und machte mich auf ins Büro, wohin ich den Weg leicht finde und wo am Schreibtisch stets ein Platz für mich frei ist.
Die Macht der Gewohnheit
R ituale gäben Kraft, las ich, der Mensch hole in Gewohnheiten Luft für Anstrengungen, er schöpfe Energie, während er tue, was er jeden Tag tue, wieder und wieder.
Auf irgendeinem Wege kam mir auch ein wissenschaftlicher Aufsatz in die Finger, in dem Soziologen das »Verkehrsverhalten« von Menschen untersuchten, also die Frage, wie man von hier nach dort kommt und von dort nach hier, wobei sie »Verkehrsverhalten« verstanden wissen wollten »als Prozess, der eingebettet ist in den Wandel von Lebensentwürfen und sozialen Praktiken« – wuff! Wenn wir die Soziologen nicht hätten, wenn sie uns nicht einbetten würden in ihre weichen Wörterkissen – was täten wir bloß, was täten wir bloß? In diesem Fall kamen sie zum Ergebnis, »dass Routinen für das Verkehrshandeln von größter Bedeutung sind«, weil sie den Zwang zu ständig neuen Entscheidungen verringerten und so »die Komplexität des Alltags« reduzierten. Man überlegt nicht jeden Tag neu, was man tut. Man tut einfach jeden Tag das Gleiche, weil es so schneller geht, soll das heißen.
Ich bringe täglich meinen Sohn mit dem Auto in den Kindergarten, bevor ich ins Büro gehe. Paola holt ihn nachmittags ab. So sieht das unser Lebensentwurf vor. Komplex ist unser Alltag aber trotzdem noch.
Bevor ich morgens fahre, muss ich den Luis jedes Mal von Neuem überzeugen, zu tun, was getan werden muss: Luis, du musst deine Semmel essen! Luis, du musst deine Zähne putzen! Luis, du musst deine Schuhe anziehen! Luis, Luis, Luis, hast du denn nie was von Ritualen gehört und von Routinen und von Reduktionen?
Nein, das hat er nicht, er bummelt. Warum soll er nicht bummeln, er ist ein kleines Kind. Und warum soll ich es nicht eilig haben, ich bin ein großes Ki…, ähm, ich bin ein Erwachsener, ich habe Verpflichtungen.
Irgendwann ist Luis über meine Ermahnungen so ärgerlich, dass er schreit: »Mir fallen gleich die Nerven runter!« Oder: »Dann such dir doch ein anderes Kind!« Und wir fahren los.
Manchmal muss ich, während wir fahren, an Thomas Bernhards Komödie Die Macht der Gewohnheit denken. Darin müht sich der Zirkusdirektor Caribaldi seit 22 Jahren, eine perfekte Aufführung von Schuberts Forellenquintett zustande zu bringen. Er übt Tag für Tag mit einem Jongleur, einem Clown, einem versoffenen, von Raubkatzen zerbissenen Dompteur und seiner Enkelin, einer Seiltänzerin. Sie kommen nie über das Stimmen der Instrumente hinaus, dann platzt die Probe aus irgendwelchen Gründen, Tag für Tag. Und doch ruft Caribaldi:
»Vollkommenheit
Vollkommenheit
verstehen Sie
sonst nichts.«
So ähnlich ist es bei uns: Einmal möchte ich eine vollkommene Fahrt zum Kindergarten erleben, seit Jahren probieren wir es, es klappt fast nie. Was wäre eine perfekte Kindergartenfahrt? Ach, ich weiß nicht. Jedenfalls ohne die Streitereien. Und vielleicht sollte ich im Auto mit ihm reden,
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