Das beste Rezept meines Lebens: Roman (German Edition)
rief ich. Ich war so verletzt, dass ich wütend wurde.
»Annie, ich höre dir doch nur zu.« Betroffen streckte sie die Hand nach mir aus, doch ich stieß sie weg.
»Du hörst nicht zu, du entscheidest !«, schrie ich. Der ganze Zorn, den ich für Julia, meine Mitschüler und die Lehrer empfand, entlud sich in einem einzigen, auf meine Mutter gerichteten Tobsuchtsanfall. »Du entscheidest, so wie du immer alles entschieden hast! Du hast entschieden, von zu Hause wegzulaufen. Du hast entschieden, dass wir bei den St. Clairs einziehen! Du hast entschieden, dass ich mit Julia befreundet sein und auf die Devon Prep gehen soll. Und jetzt sieh dir an, was du mir damit eingebrockt hast! Du bildest dir ein zu wissen, was das Beste für mich ist, dabei hast du überhaupt keine Ahnung von nichts! Du kriechst sowieso immer nur Lolly in den Arsch und hältst schön den Mund, weil du keinen Ärger willst! Du hast keine Ahnung, was ich hier durchmache! Du hast keine Ahnung, wie mein Leben aussieht! Du weißt überhaupt nicht, wie ich mich fühle!« Ich ignorierte ihr erschrockenes Aufstöhnen und die Tränen, die ihr in die Augen traten, schüttelte ihre Hände ab und rannte aus dem Haus.
Mein schlechtes Gewissen meldete sich sofort. Das Schlimmste war, dass ich selbst nicht einmal die Hälfte von dem glaubte, was ich ihr gerade an den Kopf geworfen hatte. Meine Mutter war nicht von zu Hause weggelaufen – man hatte sie hinausgeschmissen. Sie kroch Lolly nicht in den Arsch – in Wirklichkeit war zwischen ihr und Lolly im Laufe der Jahre eine echte Freundschaft entstanden. Und natürlich wusste meine Mutter, wie ich mich fühlte – sie kannte mich besser als jeder andere Mensch auf der Welt. Genau deshalb hatte mich ihr zweifelnder Blick ja auch so tief verletzt. Jedes Mal, wenn ich mir in den folgenden Monaten ein Herz fasste und zu ihr gehen wollte, um mich zu entschuldigen, fiel mir dieser Blick wieder ein und entfachte meinen Zorn aufs Neue. So erlebte ich einen langen, einsamen Sommer, in dem ich noch nicht einmal die quälenden Gedanken über die Ungewissheit meiner Zukunft mit meiner Mutter teilte.
An jenem Tag im August, an dem mein Abschlusszeugnis endlich im Briefkasten lag – an der Entlassungsfeier im Frühjahr hatte ich nicht teilnehmen dürfen –, beschloss ich, die Funkstille zwischen uns endlich zu beenden. Als ich mit meinem Zeugnis in der Hand von der Remise über den Vorplatz hinüber ins Haupthaus ging, spürte ich, wie meine Waden sich vor Angst verkrampften. Ich hatte mir vorgenommen, das Zeugnis als eine Art Ölzweig zu überreichen und meine Mutter zur Versöhnung auf einen Milchshake in der Union Street einzuladen, ein Ritual zu Ferienbeginn, das sie eingeführt hatte, als Julia und ich in die Grundschule gekommen waren. Nachdem ich von der Devon Prep suspendiert worden war und die Entscheidung des Zulassungskomitees in Berkeley noch in den Sternen stand, hatte meine Mutter diese Tradition nicht mehr erwähnt, als im Juni die Ferien begannen. Jetzt neigte sich der Sommer schon dem Ende zu, und wir hatten monatelang kaum ein Wort gewechselt. Und das alles nur, weil ich zu aufbrausend und zu stolz gewesen war.
Als ich die Küche der St. Clairs betrat und meiner Mutter das Zeugnis zeigte, nahm sie es behutsam in ihre kleinen braunen Hände und seufzte. Ich konnte diesen Seufzer nicht so richtig deuten, doch bevor ich mich darüber aufregte, platzte ich schnell mit der Frage heraus, ob sie Lust auf einen Milchshake in der Union Street habe.
Ihr Gesicht entspannte sich, und sie sah mich an. »Das klingt toll, Annie«, sagte sie.
In genau diesem Moment kam Julia in die Küche gestürmt. Ihre blonden Haare waren frisch geglättet und glänzten so, dass sie einen geradezu blendeten. Sie schenkte mir ein zuckersüßes Lächeln. In der Schule hatte sie mich immer kühl, ja abschätzig behandelt, doch wenn wir uns am Nachmittag oder später in den Ferien zu Hause über den Weg liefen, legte sie eine Zurückhaltung an den Tag, die etwas Unterwürfiges an sich hatte. Ich fand diese Janusköpfigkeit ermüdend; in Julias Gegenwart fühlte ich mich fast körperlich krank. Aber ich hatte nicht die Kraft, sie herauszufordern. Die Ereignisse des Frühjahrs, die Gerüchte und Vorwürfe hatten mir den sprichwörtlichen Wind aus den Segeln genommen. Ich hielt den Atem an und hoffte, dass meine Mutter sie unter irgendeinem Vorwand wieder wegschicken würde. Dabei kannte ich meine Mutter viel zu gut, um zu wissen, dass
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