Das beste Rezept meines Lebens: Roman (German Edition)
das nicht passieren würde. Ob es nun Pflichtbewusstsein, echte Zuneigung zu dem Mädchen, das sie mit aufgezogen hatte, oder eine komplizierte Mischung aus beidem war – jedenfalls legte sie immer sehr viel Wert darauf (zu viel, wenn man mich fragte), Julia nicht auszuschließen.
»Annie und ich gehen Milchshakes trinken!«, sagte sie. »Kommst du mit?«
Und Julia sah mich vorsichtig, fast lauernd an und sagte Ja. Ich hätte schreien können. Dass Julia mitkam, verbaute mir die letzte Gelegenheit, mich bei meiner Mutter zu entschuldigen. Eine Woche später gab ich die Hoffnung auf einen positiven Bescheid aus Berkeley endgültig auf, suchte mir einen Nebenjob als Kellnerin und schrieb mich am City College ein. Die Distanz zwischen meiner Mutter und mir verhärtete sich zu etwas Knisternd-Kaltem, wie die karamellisierte Zuckerschicht auf einer kühlgestellten Crème brulée. Irgendwann gewöhnte ich mich daran, dass unsere Gespräche auf das Nötigste beschränkt blieben. Ich brauchte ja nur meinen Stolz zu überwinden, um das Eis zu brechen und alles wiedergutzumachen. Gleich morgen würde ich das tun, redete ich mir ein. Und so ging das wochenlang, bis zu dem Tag, an dem sie starb.
6 – Julia
Als Annie von Jacqueline in die Küche geführt wurde, sah ich sofort, dass sie gereizt war. Sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum, und ihre Wangen glänzten von der kühlen, feuchten Luft draußen. Anstatt ihren roten Mantel abzulegen, zog sie den Gürtel noch fester um die Taille. Ihr kleines, herzförmiges Gesicht mit den hellbraunen, weit auseinanderstehenden Augen und dem honigfarbenen Teint verschwand fast zwischen den aufmüpfigen dunklen Locken und dem Mantelkragen aus Kunstpelz. Am Revers fehlte ein ganzes Büschel Pelz, was sie wie eine räudige, wenn auch wohlgenährte Straßenkatze aussehen ließ.
»Oh, hi!«, sagte ich betont fröhlich. »Ich hatte gar nicht damit gerechnet, dass du es bist, als ich die Klingel gehört habe. Ich dachte, du nimmst den Kücheneingang, wie in alten Zeiten.«
»Nein«, sagte Annie mit blitzenden Augen. »Ich habe den Vordereingang genommen, wie in neuen Zeiten.«
»Ah, ja.« Sie war eindeutig auf Konfrontationskurs. »Jedenfalls freue ich mich, dass du gekommen bist.« Das Dienstmädchen, das verlegen an der Tür stand, räusperte sich. Ich machte eine Handbewegung in ihre Richtung. »Jacqueline kann deinen Mantel aufhängen, wenn du möchtest.«
Etwas widerstrebend knöpfte Annie ihren Mantel auf. Darunter kam ein sonnengelber Seventies-Pulli mit Hahnentrittmuster zum Vorschein, der so gar nicht zu ihrer verkniffenen Miene passen wollte. Wo treibt sie bloß diese Klamotten auf? , fragte ich mich. Hoffentlich wusch sie diese »Vintage«-Teile wenigstens, nachdem sie sie aus der Grabbelkiste gezogen hatte. Ich strich meinen milchweißen Kaschmirpullover glatt und wies mit dem Kopf auf die eingebaute Frühstücksecke, wo schon mein aufgeklappter Laptop stand.
»Ich dachte mir, wir arbeiten am besten hier«, sagte ich. »Näher kommen wir an die Espressomaschine nicht ran, wenn wir nicht auf der Arbeitsplatte sitzen wollen.«
Annie wurde blass. Sie machte den Mund auf und dann wieder zu. »Okay«, sagte sie schließlich. Das grobe Profil ihrer Lederstiefel knirschte laut auf dem Fliesenboden, als sie an mir vorbeistampfte.
Herrje, natürlich will sie nicht in der Küche sitzen! Die Kehle schnürte sich mir zusammen. In den letzten zehn Jahren hatte ich in der Küche meiner Eltern oft genug Schokoladencroissants gefuttert, im Kühlschrank gestöbert und Kaffee getrunken, um den Ort nicht mehr mit Lucias Tod in Verbindung zu bringen. Für Annie hingegen mussten der Schock und der Schmerz in diesem Raum noch immer so gegenwärtig sein, als wäre ihre Mutter erst gestern gestorben. Bei dreißig Zimmern entscheide ich mich ausgerechnet für die Küche? Ich spürte, wie ich rot wurde.
»Oh, Annie!«, sagte ich. »Ich hätte daran denken müssen … es tut mir leid.«
»Was tut dir leid?«, fragte sie tonlos.
»Das hier.« Mit einer weiten, viel zu pathetischen Handbewegung deutete ich auf die Kücheninsel. »Sollen wir in einen anderen Raum umziehen? Das war wirklich dumm von mir. Es tut mir so leid.«
Annie kniff die Augen zusammen. Ganz offensichtlich dachte sie, ich hätte es extra getan, um sie zu ärgern. Sie starrte mich an, als könnte sie geradewegs durch mich hindurchsehen, und dieser Blick ging mir an die Nerven, obwohl ich sonst nicht so empfindlich
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