Das beste Rezept meines Lebens: Roman (German Edition)
unzähligen Augenpaaren schützen konnte, die von den Fenstern rund um den Hof auf mich herunterstarrten.
Nach Schulschluss stapfte ich die große Treppe im Foyer der St. Clairs hinauf. Ich wusste selbst nicht so recht, warum ich beschlossen hatte, mit Julia über die ganze Sache zu reden – wir hatten seit Monaten, ja vielleicht sogar seit einem Jahr keines der ehrlichen, vertrauten Gespräche mehr geführt, die unsere Freundschaft früher geprägt hatten. Wahrscheinlich war es einfach ein Anzeichen dafür, wie aufgewühlt ich war und wie allein ich mich fühlte.
Jedenfalls hatte ich ganz sicher nicht vor, ihr nachzuschnüffeln. Julia war noch nicht lange mit Jake Logan zusammen, und ich kam gar nicht auf den Gedanken, dass er bei ihr sein könnte. Ich wollte gerade die Tür zu ihrem Schlafzimmer aufstoßen, als ich seine Stimme hörte. Und er sprach über mich . Meine Hand hielt wenige Zentimeter über der Türklinke inne. Ich starrte sie an wie einen Fremdkörper und dachte unwillkürlich an den Sekundenbruchteil, in dem ein angeschossener Vogel reglos in der Luft verharrt, bevor er tot zu Boden fällt.
»Annie ist echt zum Schießen«, sagte Jake. »War sie schon immer so witzig? Meinst du, sie ist schon zu Hause?«
»Anita Quintana?«, fragte Julia und benutzte meinen vollen Namen, als kenne sie mich nur flüchtig. Ihr spitzes Kichern klang so gar nicht nach dem herzhaften Lachen, das ich sonst von ihr gewohnt war. »Ach, Jake. Annie ist das Wohltätigkeitsprojekt der Familie St. Clair. Sie ist die Tochter unserer Haushälterin, mehr nicht. Unser lieber kleiner wuschelhaariger Sozialfall. Es ist wirklich süß von dir, dass du nett zu ihr bist, aber hast du es noch gar nicht mitbekommen? Sie ist diejenige, die an der Schule die ganzen Sachen klaut!«
In diesem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Etwas in ihrer Stimme bestätigte mir, was schon den ganzen Nachmittag lang in meinem Unterbewusstsein rumort hatte: Julia hatte diese Gerüchte über mich in die Welt gesetzt. Ohne Jakes Antwort abzuwarten, drehte ich mich um und schlich mich stumm weinend die Treppe hinunter.
Im Laufe der nächsten Wochen verwandelte sich das gutmütige Desinteresse, mit dem ich bislang an der Schule behandelt worden war, in unverhohlenen Hass. Auf den Fluren wurde ich böse angezischt und im Klassenzimmer mit Stiften beworfen; bei jeder Gelegenheit wurde mein Rucksack umgedreht und ausgeleert. Und dann kam jener Tag im April, als ich mein Schließfach öffnete und unzählige Papierschnipsel mit den in Großbuchstaben aufgedruckten Worten »DU GEHRÖST NICHT HIERHER« herausquollen. Ich versuchte, die Schnipsel aufzusammeln, die um mich herum zu Boden schwebten, doch die anderen Schüler wirbelten sie im Vorbeigehen absichtlich wieder auf, bis ich mich wie in einer schrecklichen Schneekugel gefangen fühlte.
Später an diesem Tag zitierte mich der Schuldirektor in sein Büro und teilte mir mit, dass ich bis auf weiteres suspendiert sei.
»Es ist zu deinem eigenen Besten, solange diese Sache nicht geklärt ist«, sagte Mr. Crane, aber sein vorwurfsvoller Blick sprach Bände.
Als ich früher als sonst nach Hause kam, setzte die Miene meiner Mutter – eine herzzerreißende Mischung aus Sorge, Mitgefühl und Enttäuschung – einen bitteren Schlusspunkt unter diesen ungerechten Tag.
Bei einer Suspendierung vom Unterricht mussten auch die Colleges informiert werden, bei denen ich mich beworben hatte, und so bekam ich schon bald einen Brief von der Zulassungskommission in Berkeley, dass mein Fall genau geprüft würde. An die Devon Prep durfte ich nicht mehr zurückkehren, doch da die Schule mir nichts nachweisen konnte, schickte sie mir irgendwann mein Abschlusszeugnis. Erst im Herbst, nachdem meine Mutter bereits gestorben war, ertappte eine Sportlehrerin die Schulsekretärin, Ms Sherman, dabei, wie sie einen Flakon Chanel No. 5 aus der Feldhockeytasche einer Schülerin klaute. Wie sich herausstellte, hatte Ms Sherman eine Vorliebe für Designersachen, die sie sich von ihrem Gehalt nicht leisten konnte. Seltsamerweise tat sie mir fast ein bisschen leid. Ich erinnerte mich, wie sie in ihren Zigarettenpausen immer ein Stück von der Schule entfernt gestanden hatte, in gestärkten Hosen, in denen sie mager und unglücklich aussah. Offenbar war sie nicht damit klargekommen, von lauter Jugendlichen mit unerschwinglichen schönen Sachen umgeben zu sein. Bestimmt war sie nicht die Erste, die an dieser Schule in den Wahnsinn
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