Das beste Rezept meines Lebens: Roman (German Edition)
getrieben wurde. Ich hoffte für sie, dass ihr Anwalt auf unzurechnungsfähig plädierte.
Und jetzt waren genau diese Worte, die mich zehn Jahre zuvor so schwer traumatisiert hatten, mitten im Cupcake-Café aufgetaucht. Ich hatte fest geglaubt, mit den Ereignissen von damals abgeschlossen zu haben, doch bei diesem Anblick rissen die alten Wunden wieder auf. Julia hingegen stellte sich ungerührt in das grelle Licht der Baustellen-Beleuchtung und tupfte sich frischen Lipgloss auf. Ihre bloße Gegenwart brachte mich zur Weißglut. Diese mit glänzendem Pearl-Nagellack bepinselten Fingernägel. Diese schmale goldene Armbanduhr. Dieser perfekt geschlungene Schal. Am liebsten wäre ich auf sie losgegangen. Als sie meinen bösen Blick bemerkte, wurde sie blass.
»Annie«, sagte sie, »reg dich nicht auf. Das Ganze ist einfach ein schrecklicher Zufall.« Ich starrte sie stumm an, und ihre Lider begannen nervös zu flattern. »Wenn du mir keine zweite Chance geben willst«, fragte sie, »wie soll ich dir je beweisen, dass du mir vertrauen kannst?«
»Wenn ich dir keine zweite Chance gebe«, schoss ich zurück, »muss ich nie wieder daran erinnert werden, dass ich dir nicht vertrauen kann .«
Julias Mundwinkel zuckten, und plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. Ich war fassungslos. Während unserer gesamten Kindheit hatte ich sie nur zweimal weinen gesehen – einmal, als Curtis aus Versehen ihre Katze überfahren hatte und Lolly, die seit Jahren über die Katzenhaare auf ihren Orientteppichen jammerte, kein weiteres Haustier in ihrer Villa dulden wollte; und dann noch einmal bei der Beerdigung meiner Mutter. Aber jetzt brach sie schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate vor mir in Tränen aus. Meine Wut kühlte sich um ein paar Grad ab. Irgendetwas musste bei ihr passiert sein, irgendeine seltsame Wendung in ihrem Leben hatte sie auf die fixe Idee gebracht, ein Cupcake-Café mit mir eröffnen zu wollen. Ich stand vor einem Rätsel.
Julia ist eine Vampirin, hatte ich Becca vor kurzem erzählt, nur dass sie mir nicht das Blut, sondern meinen Sinn für Humor aussaugt. Julia zehrte an meiner Energie. Aber ganz ehrlich: Glaubte ich tatsächlich, dass Julia etwas mit dem Graffiti zu tun hatte? Nein. Und erwartete ich allen Ernstes, dass sie ihren Stolz lange genug im Zaum halten konnte, um sich für die Intrigen und Lügen in unserer Schulzeit zu entschuldigen? Nein. Ich musste endlich aufhören, mich mit der vergeblichen Hoffnung auf späte Einsicht zu quälen. Ich sah mich im Laden um, während sie sich die Mascara-Spuren unter den Augen wegwischte. Es war höchste Zeit, sich wieder aufs Geschäftliche zu konzentrieren.
»Tja«, sagte ich und wies mit dem Kinn auf die Holzplatte, »wenigstens passt Orange ganz gut zu unserem Farbkonzept.«
Julia blinzelte und lachte unsicher. »Wie aufmerksam von diesen Typen.« Sie schniefte und blickte sich ebenfalls um. »Es geht voran, nicht wahr?«
Die dunklen Holzdielen verschwanden zwar noch unter einer dicken Staubschicht, verliehen dem Laden aber schon jetzt eine viel wärmere Ausstrahlung. Die Fensterfront und die Glastür mit ihren Rahmen aus schwarzem Stahl, die große Vitrine und die Regale waren bereits an ihrem Platz. In der nächsten Woche sollte der Fenstertresen aufgestellt werden (falls das Graffiti diesen Plan nicht verzögerte). Dann würde noch der Kronleuchter aufgehängt und das dunkelrote »Treat«-Logo auf Fenster und Tür angebracht werden. Auch die Umbauarbeiten in der Küche würden bis dahin abgeschlossen sein. Ich hatte bereits zwei Küchenhilfen angestellt, und Julia hatte zwei Mitarbeiterinnen für die Kasse, die Gebäckauslage und die Kaffeebar ausgesucht.
»Ja, es nimmt allmählich Gestalt an«, sagte ich.
Julia seufzte sichtlich erleichtert. Sie kramte ihr Telefon aus ihrer voluminösen Ledertasche und sah auf ihre To-do-Liste. »Wie sieht es bei den Rezepten aus?«
»Gut«, sagte ich und ging im Kopf meine Ideen durch. »Es wäre allerdings noch besser, wenn ich das Backbuch meiner Mutter hätte … Ich denke da an diesen Tres-leches -Kuchen mit Rumsirup, den sie immer gemacht hat. Das ergäbe einen tollen Cupcake. Und ihr Maracuja-Baiser. Erinnerst du dich?«
»Ja!«, rief Julia. »Das war himmlisch. Wir müssen das Buch einfach finden. Warum kommst du nicht diese Woche noch mal vorbei, und wir stellen das ganze Haus auf den Kopf?«
Ich nickte. »Das kann nicht schaden. Aller guten Dinge sind drei.«
»Dann sollten wir vielleicht
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