Das Bett
betrachtete sie mit gesenktem Kopf und hielt ihre Kostümjacke dabei fest um sich gerafft. Als Ines sich ihr wieder zuwandte, küßte Aimée sie plötzlich |225| auf die fein gepuderte Nase und sagte: »Merci, ma tante«, und obwohl Ines fühlte, daß dies zärtlich gemeint war, fiel ihr dabei das Bild von kleinen, schmutzigen Zigeunerbuben ein, die hinter einem Zaun liegen und die Vorübergehenden mit verkrüppelten Äpfelchen beschmeißen. Der Kuß, mit dem sie den Aimées erwiderte, war makellos und hätte selbst Florence’ Urteil standgehalten.
Der Tag verlief im weiteren für Ines turbulent. Im Hotel lagen Telegramme und Zettel, auf denen Anrufe notiert waren. Von der Amerikanischen Botschaft, die sie, um Stephan zu erreichen, anrief, kam der ganz ernste Rat, sofort die Koffer zu packen und abzureisen, es könne sonst sehr ungemütlich für die Besitzerin eines deutschen Passes in Paris werden. Und so verließ Ines Paris, wie sie am liebsten einem Liebhaber den Abschied gab: übereilt, ohne große Worte, ohne Sentimentalitäten, die Gedanken nach vorn gerichtet und mit dem entscheidenden, für Ines’ öffentliche Auftritte typischen Akzent von Slapstick-Komik: Vor dem überfüllten Zug, den Ines atemlos erreichte, platzte einer ihrer prallgefüllten Koffer auf, Fluten von Kleidern und Wäsche in Pastellfarben flossen über den grauen Bahnhofsboden, und im Nu war eine Schar aufmerksamer Herren versammelt, um Ines in ihrem Unglück zu helfen. Die Debatten waren so lustig, und die Hilfsbereiten hatten ihre Hände wirklich überall, daß Ines den Zug beinahe verpaßt hätte. Dann zogen noch die gewaltigen und traurigen Bezirke der Vorstädte am Fenster vorbei, denen Ines freilich keinen Blick mehr schenkte, obwohl sie das letzte waren, was sie in ihrem Leben von Paris noch zu Gesicht bekommen sollte.
|226| III.
Aus der Erinnerung ist es mir nicht möglich zu sagen, wann der kleine Schaden an der Schreibmaschine meiner Tante eintrat – vor der Würzburgreise oder erst, nachdem meine Familie sich vom Ausmaß der Zerstörung dortselbst durch den Augenschein hatte überzeugen können. Es spricht manches dafür, daß die kleine Klammer, die das schwarze Seidenband gehorsam zwischen Buchstabe und Papier hob, erst nach unserer Rückkunft aus Würzburg versagte, aber es ist nicht gewiß. Wie weit war der Frühling fortgeschritten? Als Florence auf dem Frankfurter Flughafen ankam, blühten die Obstbäume bereits mit Macht. Ihre Blüte war so überwältigend, daß sie auch Florence’ unromantisches, durch die Umstände allerdings sensibilisiertes Gemüt beunruhigt hatte.
Um meine Tante zu beunruhigen, bedurfte es weit weniger als eines unabsehbaren Blütenmeeres. Wenn die Natur außer Rand und Band geriet wie zur Zeit der Apfelblüte, kehrte bei ihr eine gewisse Entspannung der Seele ein, die durch unauffälligere Ereignisse, die der massenhaften Apfelblüte vorausgegangen waren, ganz und gar aus dem Gleichgewicht gebracht werden konnte.
In unserem Viertel waren die Kastanien und die Magnolien diejenigen Pflanzen, die zuerst aus dem winterlichen Tod erwachten, jedenfalls soweit man das beobachten konnte. Wenn die anderen Bäume noch mit verhungerten Armen in den Himmel stachen und an der allgemeinen Erwärmung der Luft nicht den geringsten Anteil nahmen, begann in den Knospen der Magnolien |227| und Kastanien ein Leben, von dem meine Tante nicht wußte, ob ihr das der Magnolie oder das der Kastanie unangenehmer sein sollte. Bei sich zu Hause blieb sie von den Phänomenen des Frühlings weitgehend verschont, bei uns aber war es, dank der hochentwickelten Vorgartenkultur der Kaiser-Wilhelm-Zeit, fast unmöglich, den Frühling zu ignorieren, und besonders meine Mutter hatte eine Art, von den »ersten Kätzchen« mit einer Stimme zu sprechen, die sie sonst für kleine Tiere und Kinder, die kurz vor dem Hinscheiden stehen, aufsparte. Krokus und Schneeglöckchen standen asymmetrisch über den schilfbraunen Rasen verteilt. In ihrer Unnatürlichkeit waren sie für meine Tante keine echten Frühlingsboten, jedenfalls nicht mehr als die grünen und roten Pappdekorationen, die die Bäckereien und die Schreibwarengeschäfte zur Osterzeit zwischen ihren Auslagen verteilten. Aber ein Magnolienbaum, der in unserem Nachbargarten stand und dort genau vor dem Fenster meiner Tante seine alljährliche Arbeit begann, konnte ihr die Ruhe derart rauben, daß sie in den schlimmsten Tagen die Vorhänge unter dem Vorwand, Kopfschmerzen zu
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