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Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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Grundsatz niemals überquert hatte, von ihm getrennt. Dabei hätte sich Agnes in Bockenheim wohlgefühlt, denn seine Straßen hatten einen friedlichen, kleinstädtischen Charakter. Es gab viele kleine Geschäfte mit Wohnungen darüber, deren Abtritte auf der halben Treppe lagen, und stillen Hinterhäusern, wo die Wäsche tropfte und genau kontrolliert wurde, an welchen Tagen das Teppichklopfen gestattet war.
    Aber Agnes ahnte nur Undeutliches von den Reizen Bockenheims, weil sie sie von der anderen Straßenseite der Allee nicht sehen konnte. Die beiden Stadtteile waren noch nicht richtig zusammengewachsen, und so blickte Agnes denn, auf dem Trottoir wie auf einem Quai stehend, auf einen breiten Gürtel von |232| kleinen Gärten mit ihren Gartenhüttchen, hinter dem sich schemenhaft die ersten Häuser Bockenheims erhoben, ausgerechnet in sehr schlechtem Zustand und die Verheißung des anderen Ufers nicht steigernd. In Bockenheim sollte das eine oder andere Gemüse billiger zu haben sein, natürlich nicht immer, aber wenn man sich auskannte. Und das war es eben: Als nur gelegentlicher Kunde, als Glücksritter auf der Jagd nach günstigen Angeboten in den Bockenheimer Geschäften aufzutreten, das konnte nicht ratsam sein. Die steckten doch wahrscheinlich hinter den Schrebergärten alle unter einer Decke und würden sich noch eine Ehre daraus machen, den neugierigen Fremdling nach Strich und Faden übers Ohr zu hauen. Darüber hinaus war bekannt, daß die Bockenheimer keine Frankfurter waren, sondern in Wahrheit Kurhessen, und Agnes mißtraute ihnen deshalb mehr als den Franzosen. Dieses Mißtrauen setzte sie in den glücklichen Stand, Nachrichten über günstigen Spargel aus Bockenheim neidlos anzuhören, obwohl sie immer, wenn eine solche Botschaft an ihr Ohr gedrungen war, ihre Spaziergänge mit dem kleinen Stephan in die Richtung der trennenden Allee lenkte, wo sie beide eine Zeitlang innehielten und an günstigen Tagen, über die Schrebergärten hinaus, über den Dächern der vernachlässigten Häuser die sanfte Linie der hellblauen Taunusberge sahen. Bockenheim wurde dann unwirklicher denn je, Agnes beruhigte sich und ging gern und unbelastet mit Stephan nach Hause, wo sie ihn im Kinderzimmer abgab, um selbst wieder in ihre unterirdische Welt zu steigen.
    Die Mühelosigkeit, die durch nichts zu übertreffende Unbekümmertheit, mit der Stephan, der an seinem rechten Arm meine Tante führte und in seiner linken Hand das Lederköfferchen mit der Reiseschreibmaschine trug, nun eben diese Allee überquerte, hatte doch eigentlich etwas von einem kleinen Verrat an Agnes. Nicht, daß sich Stephan für sein ganzes Leben in ihrer Bannmeile hätte halten müssen, um ihr seine Treue zu beweisen, davon konnte auch nach einem bewegten Reiseleben wie dem seinen nicht mehr ernsthaft die Rede sein. Aber er empfand nicht einmal einen Augenblick lang, daß er eine Grenze überschritt, |233| die zwar nicht ihm galt, die aber für ein ihm nahestehendes Wesen unüberwindbar gewesen war. Natürlich war für beide Bockenheim ebenso fremd wie für Agnes, aber doch in anderer Weise. Was für Agnes wie ein anderes Land war, das stellte sich für Stephan einfach als banale Vorstadt dar, die er nur deshalb niemals aufgesucht hatte, weil es keinen Grund für ihn gab, sich in kleinbürgerlichen Wohnquartieren aufzuhalten. Meine Tante hingegen hätte niemals gewagt, soziale Kategorien für die Qualifikation einer Gegend ins Spiel zu bringen, das war nicht demütig, das Soziale hatte keine Rolle zu spielen. Statt dessen teilte sie die Bezirke einer Stadt in »ordentliche« und »ungepflegte« oder, noch deutlicher, in »gefährliche« und »ungefährliche« ein, Differenzierungen, die sich in ihrer Sachlichkeit erstaunlicherweise mit denen der sozialen Klassifikation im Ergebnis meistens deckten. Bockenheim jedoch war zwar ein wenig schmuddelig, aber freundlich, von heiterem Handelsgeist erfüllt, von den Gerüchen ofenbeheizter, von zahlreichen Personen bewohnter kleiner Wohnungen überlagert, mit Straßen, in denen die Schäden des Krieges weniger verletzend wirkten als in der traurigen Villengegend des Westend, aus der sie beide aufgebrochen waren. Dort war jedes Trümmergrundstück ein Memento des Todes und des Untergangs einer Epoche, die Fensterhöhlen blieben jahrelang tot, der Bewuchs der Ruine mit kleinen Pflanzen hatte nicht die Tröstlichkeit eines sicheren Sieges der Natur über alle menschliche Verirrung, sondern etwas von dem

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