Das Bett
haben, nicht öffnete, nur um sich den Anblick der Entwicklung seiner Blüten zu ersparen.
Sie wußte längst, wann es soweit sein würde, weil sie bemerkt hatte, daß die fein bräunlich behaarten Kapseln, die das junge Blütenfleisch umschlossen, sich unter dem inneren Ansturm dehnten, Schwellungen bekamen und gelegentlich auch schon haarfeine Risse, die die Empfindlichkeit dieser Häute ahnen ließen, so daß der Augenblick des Aufplatzens und des Sich-nach-außen-hin-Entladens unmittelbar bevorstehen mußte. Eines Tages schob sich dann auch ein fester, weißer Blütenzapfen durch die Kapselhaut, die seines Drängens nicht mehr Herr geworden war und sich mit einem seufzenden Geräusch, viel leiser als das, welches entsteht, wenn sich zwei geschlossene Lippen voneinander trennen, resignierend öffnete. Seit meine Tante einmal bei einem solchen Vorgang dabeigewesen war, schauderte sie vor seiner Wiederholung zurück und wußte doch nicht, ob der Beginn der Kastanienblüte nicht noch schwerer zu ertragen war. |228| Hier lag freilich der Schreckensaugenblick später als bei der Magnolie. Bei der Kastanie war die Phase des Öffnens der Knospe weniger spektakulär, weil ihre Blüte in diesem Stadium noch nicht so entwickelt war. Zunächst kam nur kleiner, fester, grüner Blumenkohl aus der Kastanienknospe herausgekrochen, geradezu appetitanregend, man konnte sich vorstellen, dies erste Grün mit einer Vinaigrette aufzuessen. Erst in der zweiten Phase geschah dann, wovor meine Tante erschrak, wenn sich nämlich der Knospeninhalt zu entfalten begann, sich ausstreckte und seine wahre Gestalt offenbarte. Gelbgrüne Körperchen hingen plötzlich an den Enden der Äste, die Köpfe nach unten, mit zarten, vermutlich noch weichen Knochen, knorpelhaften Gelenken und zugewachsenen Augen. Anders als bei den Magnolien konnte dieser Zustand tagelang andauern, und es war in Anbetracht der Erlebnisweise meiner Tante, die die Kastanie wie einen Weihnachtsbaum, nur nicht mit Sternen und Kugeln, sondern mit Embryonen bestückt, sah, schon ein außergewöhnlich ungünstiges Zusammentreffen, daß neben der schon genannten Magnolie auch noch eine mittelhohe Kastanie vor ihrem Fenster stehen mußte. Kein Baum war ausgelassen, der zur Frühlingsfeier seinen Teil beitragen konnte.
Als ob meine Tante also die Anspannung ihres Inneren, unter der sie beim Anschauen dieser prahlerischen Fekundität stand, an den komplizierten Mechanismus ihrer Schreibmaschine weitergegeben hätte, zerbrach daraufhin ein winziges Federchen, womit sich die unbelebte Maschine der Verantwortung als Stellvertretung würdig erwies, denn es war besser, daß ein Federchen zerbrach als das Herz meiner Tante, das Belastungsproben nicht mehr gewachsen war.
Sie hatte übrigens nicht nur zum Spaß auf ihrer Reiseschreibmaschine herumgetippt, sondern regelrecht gearbeitet. Morgens ging sie in die Bibliothek und kehrte mit schwarz-fettigen Büchern zurück, denn sie war auch in ihren Ferien immer von der Sehnsucht getrieben, vielleicht doch einmal eine packende Unterrichtsstunde, von der sie heimlich träumte, halten zu können. In dem Frühling, in dem wir Stephan Korn bei |229| uns sahen, befaßte sie sich wieder mit dem ›Kleinen Prinzen‹ des Postfliegers Saint-Exupéry. Immerfort exzerpierte sie aus der reichlichen Sekundär- und Erinnerungsliteratur und suchte die Schlüssel zum tieferen Verständnis des Werkes, von dem es in den von ihr bezogenen ›Philologischen Blättern‹ hieß, es sei in einzigartiger Weise geeignet, »dem jungen Menschen die Prinzipien der Humanität und der menschlichen Solidarität angesichts einer sinnlos gewordenen Realität nahezubringen«. Sie fürchtete, während sie ungeschickt klappernd hinter ihrer Schreibmaschine saß, daß sie nichts von all dem Schönen aus der Welt des ›Kleinen Prinzen‹ verstanden habe, und vergrub sich immer tiefer in das begleitende Schrifttum, denn es lag ihr glücklicherweise die Erkenntnis fern genug, daß demjenigen, dem das Leben das Hoffnungslicht ausgeblasen hat, dieses Licht auch durch die geschmeidigste Literatur nicht wieder angezündet werden kann.
Es war deshalb eigentlich eine Wohltat für meine Tante, daß unter dem lautlosen Platzen der Knospen vor ihrem Fenster auch das Federchen brach und das ruhelose Klappern erst einmal ein Ende hatte. Meine Tante erschien mit schwarzen Fingern am Mittagstisch, denn sie hatte versucht, den Schaden selbst zu ergründen, und dabei immer heftiger am
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