Das Bett
Geruchserlebnisse auf ihn warteten, weil auch dort mit reinigenden Essenzen gearbeitet wurde. Und er dachte in seiner Unternehmungslust nicht einen Augenblick an seine ererbten Pflichten, die ihm allerhand Möglichkeiten geboten hätten, darunter auch |240| die, am Sonntag der Fabrik fernzubleiben. Sein Blick war nicht in die Gegenwart gerichtet, er nahm sie nicht einmal zur Kenntnis, denn sie war da, ob man sich mit ihr beschäftigte oder nicht, und das war keine Eigenschaft, die seine Phantasie anregte.
Stephan schrak aus seinen Gedanken auf, als meine Tante ihn am Ärmel berührte. Er hatte nicht bemerkt, daß sie schon fertig war, freute sich aber, daß sie lächelte. Sie lächelte aus Erleichterung, denn der Betrag des Kostenvoranschlags war klein, nicht höher als eine absolvierende Buße. Ganz selbstverständlich nahm sie auf der Straße Stephans Arm und fühlte zum erstenmal, daß dieser Arm keine symbolische Stütze war, denn als sie gedankenverloren bereits nach wenigen Schritten stolperte, bewahrte sie Stephans sicherer Halt vor dem Sturz.
Der Laden lag in einer stillen Straße. Die wuselnde Betriebsamkeit der Hauptgeschäftsgegend Bockenheims war hier schon nicht mehr zu spüren, aber wie die Bockenheimer wirklich lebten, war dafür deutlicher zu erfahren als auf der überfüllten Leipziger Straße. Vor den Haustüren standen Frauen in Kittelschürzen, mit Emailleeimern in den Händen, und sprachen. Ein alter Mann mit Schirmmütze und blauer, baumwollener Arbeitsjacke fuhr auf einem schwarzen Fahrrad. Auf einem kleinen Platz standen dünne Bäume und zeigten Knospen, die den Rentnern zum Gesprächsstoff dienten, ebenso wie die Frage, ob man sich draußen schon auf die Bank setzen solle, denn es sei schon ganz schön warm, oder ob man sich von der Bodenkälte noch etwas wegholen könne.
Stephan und meine Tante gingen nun langsamer. Sie hatten ihre wichtige Angelegenheit erledigt und schienen damit ein Ziel verloren zu haben, obwohl es nicht mehr lange zum Mittagessen war, zu dem sie sich bei meinen Eltern angesagt hatten. Sie sprachen nicht viel, beglückwünschten sich zu dem günstigen Ergebnis in der Werkstatt, aber die Unterhaltung kam nicht in Schwung. Plötzlich blieb Stephan stehen und blickte erstaunt auf ein großes Tor zwischen zwei einfachen alten Wohnhäusern. Es schwang sich hoch hinauf und trug an seiner gemeißelten Wölbung eine freistehende Büste Wolfgang Amadeus Mozarts. |241| Meine Tante erkannte ihn vor Stephan, weil die Büste eine jener zahllosen Repliken war, die mit einem realistischen Mozartporträt nicht das geringste zu tun hatten und sich im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert großer Beliebtheit erfreuten. Wie Mozart danach angeblich ausgesehen hatte, sah in Wahrheit überhaupt niemand aus. Die Idealisierung der Züge war nicht die furchterregende des »Wagenlenkers«, sondern die der Friseurpuppe, die ein – freilich mitleiderregendes – Leben erst auf dem Müllhaufen bekommt. Immerhin kam eine Mozartbüste hier unerwartet. Meine Tante und Stephan waren in ihrem ziellosen Gang nur zu bereit, ihr Auftauchen als Zeichen zu begrüßen. Ohne sich hierüber zu verständigen, gingen sie durch das Tor, um zu schauen, was sich dahinter verbarg.
Zunächst erwartete sie eine kleine Enttäuschung. Der Hinterhof unterschied sich in nichts von allen anderen Hinterhöfen dieses Stadtteils, die sie durch geöffnete Haustore hindurch auf ihrem Weg schon wahrgenommen hatten. Auch hier tropfte die Wäsche, standen Fahrräder herum und waren Pfeile gemalt, die den Flüchtenden den Weg zum Luftschutzkeller wiesen. Dann fiel ihnen etwas auf, das sie sich nicht recht erklären konnten: ein düsterer langgestreckter Schuppen aus schwärzlichem Backstein, an dessen Längsseite mehrere Flügeltüren in gleichem Abstand, etwa wie bei einer Garage, Stephan dachte auch an die unseligen Flugzeugschuppen, in die Mauern eingelassen waren. Stephan ging voraus und drückte eine der Türklinken. Die Tür öffnete sich, meine Tante und Stephan sahen sich an und betraten dann die Halle. Es war dunkel darin, Licht fiel nur durch die Tür, durch die sie eben hineingekommen waren, aber allmählich erkannten sie, wo sie sich befanden.
Sie standen in einem alten Kinosaal, einem geschlossenen Vorstadtkino, das wohl schon vor dem Ersten Weltkrieg die Bevölkerung der Umgebung mit flackernden Filmchen und einem unermüdlichen Tappeur unterhalten hatte, das dann die Welt der Wochenschauen und Ufa-Operetten
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