Das Bett
pietätlosen Anblick einer auf offener Straße verwesenden Leiche. In Bockenheim gab es ebenfalls eine Reihe empfindlicher Lücken in den Straßenzeilen, aber hier waren sie einfach wieder zugewachsen. Hütten und Schuppen waren entstanden, in denen sich Gemüsegeschäfte und Schuhmacher niederließen. Wer den Blick nicht nach oben richtete, bemerkte gar nicht, daß die Bomben nicht nur im wohlhabenden Westend, sondern auch im einfältigen und behäbigen Bockenheim gewütet hatten. Die dicken Suppen, die Eintöpfe, die Leberwurstbrote von Bockenheim! Meine Tante und Stephan konnten davon nichts ahnen, denn all diese Gerichte wurden in Küchen gekocht und bereitet, |234| die sie nie betreten würden. Und dennoch will ich es, wenn auch nur zum kleinen Teil, der simplen Vitalität der Geschäftsstraßen von Bockenheim zuschreiben, die ihre Wirkung auf die beiden Menschen nicht verfehlte und ihre Herzen, je tiefer sie in dieses Quartier eindrangen, schneller schlagen ließen.
Das Herz meiner Tante klopfte noch aus einem anderen Grund. Es gibt Bemerkungen, die uns in ihrer Knappheit tiefer treffen können als ausführliche Reden, die dasselbe Thema von allen Seiten beleuchten. Gegen wortreiche Angriffe können wir uns wehren, weil es für jede rhetorische Figur auch eine Gegenfigur gibt, aber ein Mot juste hat eine so kleine Oberfläche, daß es wie ein Nagel ins Herz getrieben werden kann und mit einem Schlag zu töten vermag. Meist sind es die verborgenen Seiten unseres Charakters, die mit solchen Angriffen rechnen müssen, denn selten gelingt es unsern Feinden, uns so genau zu erkennen, daß sie uns mit Präzision bewußt verwunden. Stephan wollte nichts weniger, als meine Tante beunruhigen oder gar aufregen, und doch hatte er es getan, mit dem arglosesten Gemüt der Welt, und meine Tante, die ohnehin nicht mehr sicher auf den Beinen war, seit sie wußte, daß Stephan sich des Schicksals ihrer Schreibmaschine annahm, lebte seit seinen tröstenden Worten in dem Zustand eines Grundbesitzers, der täglich den Enteignungsbescheid des sozialistischen Diktators erwartet.
Wir haben uns daran gewöhnt, dem Schmerz eine Stufenleiter der Dignität zuzusprechen. Wer um die verlorene Geliebte trauert, rangiert in dieser Skala höher als der, den der Verlust der Brieftasche betrübt. Es gibt nichts Ungerechteres als diese Bewertung. Sie stammt aus den Tagen, als jedermann mit dem Begriff »das höchste Gut« unbedenklich umging, weil alle darunter dasselbe verstanden, aber sie war schon damals nicht barmherzig. Ein Schmerz muß danach beurteilt werden, wie stark er ist, und nicht danach, was ihn ausgelöst hat, denn was dem einen sein Nadelstich, ist dem andern sein Hammerschlag, und es gibt Eigenschaften, die schon bei leiser Kränkung einen heftigen Schmerz fühlen lassen, obwohl wir ihnen keinen hohen moralischen Rang einräumen.
|235| Zu diesen Eigenschaften gehört der Geiz. Wer von ihm befallen ist, muß sich auf ein Leben einrichten, das einer Via dolorosa gleicht. Jede nicht immer vermeidbare Geldausgabe stellt für ihn eine Bedrohung dar. Der Geizige erlebt die Angst des Kaufmanns von Venedig an jedem Tag, den er ertragen muß, nur mit dem Unterschied, daß ihm der vertragsgewandte Shylock nicht ein Pfund Fleisch ein einziges Mal aus dem Körper schneiden will, sondern daß ihm diese Tortur täglich droht, manchmal in winzigen Dosen, immer aber mit Blutverlust verbunden.
Als Stephan sich die Schreibmaschine, ein Vorkriegsmodell, betrachtete, um den Schaden einzuschätzen, sagte er zu meiner Tante, daß er sich nicht vorstellen könne, daß die Reparatur allzu umfangreich ausfallen werde.
»Und andernfalls können Sie ja auch eine neue kaufen«, eine Bemerkung, die meine Tante sorglos stimmen sollte, ihr aber statt dessen erst recht Sorgen bereitete.
War meine Tante geizig? Genügte es, für diesen Vorwurf den unbestreitbaren Umstand zugrunde zu legen, daß ihre Sparsamkeit mit einer Radikalität einherging, die wirklich nichts mehr mit Ökonomie zu tun hatte? Wahrer Geiz ist ohne Absicht, er hofft nicht, er ist geduldig, er steckt voller Selbstverleugnung, er nimmt jede Entbehrung auf sich, wie es der Apostel Paulus über die Liebe sagt. Wer für ein hohes Ziel den Nächsten neben sich verhungern läßt, der ist kalt, er muß jedoch nicht geizig sein. Nein, wo auch noch der geringste Plan sich mit dem Ansammeln der Schätze verbindet, der über ihre bloße Anhäufung hinausgeht, kann von reinem Geiz nicht die Rede
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