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Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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Gefühle anheimgefallen sein sollte, und doch wäre sie wahrscheinlich enttäuscht gewesen, daß nicht sie allein es war, die Stephan den Mund öffnete. Sie hatte gewiß ihren Anteil daran, profitierte zugleich aber von der Stimmung, in die ihn der Weg durch Bockenheim versetzt hatte. Er fragte sich, was ihn an Bockenheim fesselte, und er mußte sich eingestehen, daß es die muntere Kleinbürgerlichkeit und die farblosen Häuserzeilen allein nicht sein konnten. Allmählich siegte schließlich die sichere Empfindung, hier schon einmal gewesen zu sein, diese Gerüche schon einmal gerochen, irgendwann schon einmal auf solch einem graphitfarbenen Basaltpflaster gestanden zu haben.
    Die Konditorei, in die er meine Tante geführt hatte, war ein trauriger Aufenthaltsort. Sie war menschenleer, weil die Bockenheimer um die Mittagszeit nicht in Konditoreien zu sitzen pflegten, und wirkte in ihrer Leere noch trister, als sie es zum trüben Lampenschein in den Zigarettenrauchwolken der alten Frauen am späten Nachmittag tun würde. Die Mittel, mit denen man diesem Raum etwas von dem boudoirhaften Luxus einer Pralinenschachtel hatte geben wollen, standen bei Tageslicht in ihrer ganzen Dürftigkeit vor den Augen der beiden Gäste. Die Plastikwandbespannung war von einer stumpfen Schicht aus Staub und Nikotin überzogen, und in der Glaskuchentheke, die noch nicht für die Nachmittagsgäste gefüllt war, standen die drehbaren Aluminiumtortenständer bereit, als sollten sie versteigert werden. Niemand konnte glauben, daß sich in den schräg ins |253| Regal gestellten Schachteln mit Industriepralinen ein einziger eßbarer Gegenstand befinde. Diese Konditorei hatte etwas von einer alternden Frau, die nach stundenlangem Kampf vor dem Spiegel resigniert die Schultern fallen läßt und sich geschlagen gibt: Sie kann sich in diesem Augenblick nicht vorstellen, was kurze Zeit später eintreten mag, daß ihr nämlich ein starker Cocktail, warmes Lampenlicht und ihr erstes ungeplantes Gelächter ein paar verlorene Jahre zurückgeben werden.
    Meine Tante bemerkte die Schäbigkeit der Konditorei nicht. Sie hatte keine Vergleichsmöglichkeiten, denn sie besuchte niemals eine. Sie hätte gar nicht gewußt, wann und aus welchem Anlaß sie das hätte tun sollen. Im Grunde war eine Konditorei für sie ein überflüssiger Aufenthaltsort. Mit Stephan hingegen hätte sie sich an noch viel dubiosere Orte begeben, ohne zu zögern und ohne darüber nachzudenken. Sie war nun sogar schon mit ihm im Kino gewesen, obwohl sie das fast wieder vergessen hatte, so wenig war ihr die Umgebung im »Titania-Palast« nahegegangen. Sie hatte Schokolade bestellt, Stephan verlangte, daß sie dazu Schlagsahne nahm, und sie willigte ein, indem sie ihn mit einem Blick bedachte, der die Einwilligung selbst in den Schwedentrunk vorbehaltlos einschloß. Stephan probierte seinen Kaffee, der sich als angenehm stark herausstellte, und auch meine Tante kostete mit vögelchenhaftem Nippen von ihrer Schokolade. Sie sah Stephan dabei an und versuchte, beim Schlucken zu lächeln, um ihm zu zeigen, daß sie nicht nur gehorsam sei, sondern daß ihr die Ausführung seiner Wünsche sogar noch Spaß mache. Währenddessen war Stephan weit von ihr entfernt. Sein Grübeln über Bockenheim war fündig geworden, und das erhöhte seine gute Laune und seine Unternehmungslust.
    Es war ihm jetzt klar, daß es das helle Grau der Häusermauern war, das ihn angezogen hatte. Diese Mauern waren alle verputzt, nur die Fenster und Türeinfassungen ragten aus dem Putz heraus und bestanden aus roten, vom rußhaltigen Regen mit Streifen versehenen Backsteinen. Der Putz war ursprünglich weiß gewesen, sofern seine feine Porosität, in der sich Millionen winziger |254| Schattenteilchen fingen, überhaupt je einen monochromen Farbeindruck zuließ. Weil alle Häuser der Straßen, durch die sie gegangen waren, aus denselben Jahrzehnten stammten, in denen sich Bockenheim aus einem kurhessischen Dorf in eine Arbeitervorstadt Frankfurts verwandelte, waren sie auch alle in einem ähnlichen Zustand: Sie waren gealtert, ohne ständig gepflegt und neu angestrichen zu sein, denn die Kriegszeiten hatten den Eigentümern nicht erlaubt, überflüssige Kosmetik an ihren Häusern zu treiben. Zugleich waren diese Häuser jung genug, daß ihnen die mangelnde Pflege in der Substanz nicht geschadet hatte. Sie standen noch kräftig und gesund da, der gute Backstein, der gelegentlich sogar verwandte rote Sandstein bröckelte

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