Das Bett
und oben war. Dr. Tiroler griff mit der ganzen Hand in die Popcorntüte, die immer noch nicht leer war, zog die Hand zur Faust geballt heraus, einzelne Popcorns rieselten nach rechts und links, er hob sie zum weit geöffneten Mund, der Tänzer sprang ins Nichts, in die blaue Nacht, in der tausend Sterne synkopisch zur Musik funkelten, und Tiroler sackte nach vorn und schlug hart mit seiner Stirn an die Kante des Sessels in der Reihe vor ihm. Sein Arm fiel herunter, seine Brille fiel auf den Boden und zersprang. Florence bemerkte diesen Vorgang eine Sekunde später. Sie begriff nicht gleich, was vor sich gegangen war, und rüttelte an seinem Arm. Als er sich aber nicht bewegte, schrie sie auf, nicht hysterisch übrigens, sondern scharf und klar, befehlsgewohnt: »Hilfe! Sofort einen Arzt!« Unter den Schritten der Helfer, die Tiroler hinaustrugen, knirschte das zu Boden gefallene Popcorn.
Die Vorstellung wurde unterbrochen, die Leute blinzelten sich erschrocken an. Florence war schon bei Tiroler im Krankenwagen, als Stephan noch in der Stuhlreihe stand und nach Tirolers Brille suchte. Er hob sie auf, bemerkte, daß alle Blicke auf ihn gerichtet waren, und zuckte verlegen mit der Schulter. Dann wurde es wieder dunkel, und der Film lief weiter.
Auch im Bockenheimer »Titania-Palast« wurde die Ruhe jäh unterbrochen. Die schmalen Lehnen der Kinosessel erlaubten nicht, daß zwei Nachbarn zugleich ihre Arme darauf legten, es sei denn, diese Nachbarn standen sich auch sonst im Leben so nahe, daß sie keinen Anlaß hatten, im Kino körperliche Berührung zu vermeiden. Stephan hatte sich zuerst gesetzt und auch gleich seinen Arm auf die Sessellehne gelegt. Meine Tante aber, die sich erst später setzte, hatte dies nicht bemerkt und legte gleichfalls ihren Arm auf die Lehne. Sie zog ihn nicht zurück, als sie Stephan berührte, und auch Stephan machte keine Anstalten, die Lehne für sie zu räumen. So saßen sie, sekundenlang, minutenlang, vielleicht sogar eine Viertelstunde lang.
|249| Auf einmal drehte sich Stephans schlaff nach unten hängende Hand herum und ergriff vorsichtig die ebenso kraftlos hängende Hand meiner Tante, die nicht ganz trocken war, obwohl es im Kino kühler zu sein schien als draußen und allgemein noch die Frische des ersten Frühlings herrschte. In diesem Augenblick sagte eine scharfe Stimme hinter ihnen:
»Is da wer? Ei, was machen Sie denn da?« Stephan und meine Tante fuhren auseinander und drehten sich um. In der halb geöffneten Tür stand eine Frau, die, wie offenbar alle Frauen dieses Viertels, als Insignium ihrer matriarchalischen Machtvollkommenheit einen Eimer in der Hand hatte und sich mit der andern auf einen Schrubber stützte. Sie war mißtrauisch geworden, weil die Tür aufgestanden hatte, und wollte verhindern, daß in dem leeren Kino Unsinn getrieben wurde. Stephan beruhigte sie schnell, allein durch seine Erscheinung, und auch meine Tante sah gewiß nicht gefährlich aus. In der kleinen Unterhaltung mit der Hüterin des Kinos, die sich dann als die Besitzerin vorstellte, erfuhren die beiden, daß das Kino tatsächlich noch nicht lange geschlossen war.
»Es ging einfach nicht mehr«, sagte die Frau. »War kein Interesse mehr?« fragte meine Tante. Die Frau lachte und sagte in einem verachtungsvollen Ton: »Haha, Interesse schon, die sind ja alle gelaufen gekommen. Wenn das nach denen gegangen wäre, tät ich noch jeden Tag hinter der Kasse sitzen. Aber es war Schluß.«
»Ei und warum?« fragte Stephan.
»Ei, wegen dem Krach«, sagte die Frau.
»Hat der die Nachbarn gestört?« fragte Stephan. Die Frau wurde immer besserer Laune, aber ihr Hohn stieg mit ihrer Stimmung. »Nein, nein, woher denn, die hat das nicht gestört, die doch nicht, die Vögel.«
Stephan fragte: »Ei, wen hat denn der Krach gestört?«
»Ei, mich«, sagte die Frau, nahm ihren Eimer und ihren Schrubber und drehte sich um. »Ich laß Sie vorn raus«, sagte sie, ohne Stephan und meine Tante anzusehen, die ihr durch den dunklen Gang folgten, der sich in das Foyer des Kinos öffnete. |250| Die Schaukästen waren leer, aber der Boden war geputzt, und eine Tafel mit Glasmalerei verhieß eine beständig aktuelle Wochenschau: »Das Auge der Welt.«
»Einmal ist Schluß«, sagte die Kinobesitzerin und öffnete ihnen die Tür nach draußen. Stephan und meine Tante atmeten auf, als habe es im Vermögen der Frau gestanden, sie beide so lange im Garderobenraum einzuschließen, bis Personen erschienen, die sich als
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