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Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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stand eine Weile schweigend da. Dann sagte er: »Das ist mein Schicksal. Ich komme zu spät. Aber selbst wenn ich rechtzeitig gekommen |361| wäre, vor Willy also, hätte mir das nichts geholfen. Sie sieht mich ja überhaupt nur an, weil sie ein Leben mit diesem Schatten zugebracht hat und endlich weiß, was das heißt.« Über die Frage, ob er also Stephan hassen müsse oder ob er ihm besonderen Dank schulde, erlosch sein Feuer in einem schwarzen Strom von Wehmut. Schließlich sank Henry Tiroler auf der Couch, auf der sonst, in freiwilliger Wehrlosigkeit, seine Opfer sich ihren hemmungslosen Geständnissen hingaben, in einen tiefen Schlummer, dessen rücksichtsvolle Traumlosigkeit ihm die Lösung weiterer Rätsel am anderen Morgen ersparte.
    Tiroler lag schon im Krankenhaus, als er sich der Nachtgedanken an seinem Geburtstagsabend wieder erinnerte. Es stand schlecht um ihn. In seinem Körper ernährte sich ein bösartiges Gewächs von seinem Fleisch und Blut, und obwohl sein Zustand an sich noch nicht kritisch war, wurde das Herz, ohnehin die schwächste Stelle in seinem Organismus, von seiner Krankheit in einem Maße belastet, dem es auf die Dauer wohl nicht gewachsen sein würde. Obwohl er viel schlief, besuchte ihn Florence häufig, saß stundenlang an seinem Bett und beobachtete seinen Schlaf. Wenn er erwachte, dankte er Florence in rührenden Worten, daß sie gekommen war, und er bemühte sich, ihr das Gefühl zu geben, daß sie nicht vergeblich gekommen sei, denn er konnte sich immer noch nicht vorstellen, daß sie ihn wirklich nur um seinetwillen besuchte und nicht, um von ihm unterhalten zu sein. Er hatte sich ein sonderbares Gedankensystem zurechtgemacht. Die Vorstellung, daß Florence Stephan mit Leib und Seele verfallen sei, war seine fixe Idee geworden. Er sah die Verbindung zwischen Mutter und Sohn als unauflöslich an. Natürlich würde ein erfahrener Analytiker in jahrelanger Arbeit dies Gefüge lockern können, aber wer außer ihm sollte das denn sein? Wem außer ihm würde Florence denn ein Vertrauen schenken können, das in gleichem Maße erwidert wurde?
    Er dekretierte vor sich, daß Florence’ Schicksal ebenso unabänderlich sei wie sein eigenes. Wie er starb, würde auch Florence eine seelisch gesunde Beziehung zu ihrem Sohn niemals mehr erlangen können. Natürlich trug sie daran auch eine gewisse |362| Schuld. Man hatte nicht das Recht zu glauben, daß man ewig lebe, man durfte nicht einfach eine ausgestreckte Hand so lange betrachten, bis man alt und grau und einsam genug war, um ein Vergnügen daran zu finden, sie auch zu ergreifen. Florence hatte sich einen Luxus ohnegleichen geleistet. Sie hatte ihn, der zur Stunde die Zahl seiner Auszeichnungen nicht mehr zählen konnte, wie einen Buben behandelt, dessen Heranwachsen die hohe Frau mit besinnlichem Lächeln verfolgt. Für diese Verkennung der Lage mußte sie jetzt bezahlen. Sein Tod würde ihre Strafe sein. Dieser Gedanke gewährte ihm einen gewissen Trost.
    »Sie werden sich wunderbar erholen«, sagte Florence jedesmal, wenn sie ihn besuchte, und sie hatte auch keine Bedenken mehr, seine Hand, die schwach auf der Bettdecke lag, zu ergreifen und für eine Weile zu halten. Die kostbaren Petits-fours-Schachteln, die sie niemals versäumte am Krankenbett abzustellen, hatten jedoch nur noch die Funktion der silbernen Herzen, die die Gläubigen als Danktribut in den Gnadenkapellen der Maria aufhängen, in der Hoffnung, das silberne Geschenk würde vom Himmel schon irgendwie wahrgenommen, denn Tiroler aß nichts davon, sondern schaute sich die kleinen Kunstwerke aus buntem Zucker nur an, um nach Florence’ Abschied der Schwester zu läuten und sie anzuweisen, die Votivgabe im Kleiderschrank zu den übrigen zu legen.
    »Sie vergeuden Ihre Zeit«, antwortete Tiroler, »Sie haben andere Pflichten. Wie lange ist es her, daß Sie nichts mehr von Stephan gehört haben? Wissen Sie, was es heißt, ihn dort in Europa allein umhertreiben zu lassen? Er ist auf Ihre Aufsicht angewiesen. Wenn ich jetzt gesund wäre, würde ich Ihnen vorschlagen, auf unserer Schweiz-Reise Stephan gemeinsam wieder einzufangen. Es war wohl zu früh für dies Experiment. Aber so werden wir unseren Aufenthalt in Ascona verschieben müssen, und Sie werden Stephan allein abholen und hierher zurückbringen. Sie sollten nicht zuviel Zeit verlieren.« Tiroler wiederholte diese Reden immer wieder, er versuchte geradezu, Florence von sich wegzutreiben. Florence zögerte hartnäckig,

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