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Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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ihm zu gehorchen, sein Auftrag kam ihr fremd vor.
    |363| Wenn sie an Tirolers Krankenbett saß, konnte etwas geschehen, was außerhalb seines Vorstellungsbereichs lag: Sie vergaß Stephan, er spielte keine Rolle mehr in ihren Überlegungen. Stephan war ein Bestandteil ihres Lebens vor Tiroler, ein freundlicher Bestandteil ohne Zweifel, denn er hatte sie zu Tiroler geführt. Daß Tiroler sie nun zu Stephan zurückschickte, irritierte sie. Sie verstand nicht, was für ein Sinn in diesem verschlungenen Weg liegen sollte, dessen vermeintliches Ziel offenbar nur die Durchgangsstation war, um an den Ausgangspunkt zurückzukehren. Es wäre falsch zu glauben, daß Florence litt. Sie war mit der Arglosigkeit eines kleinen Mädchens bei diesem Spiel dabei, sie versuchte seine Regeln zu ergründen und besaß als einzigen Antrieb den Willen, alles richtig zu machen, und das hieß, Tirolers Wünschen gerecht zu werden. Florence war gespannt wie ein Neophyt, der in den Tempel eingeführt wird. Sie war wie er bereit, alles, was im heiligen Bezirk vorkam, anzunehmen, ob es Schmerzen bereitete oder glücklich machte, ob es das Leben verschönte oder es zerstörte, und dies allein aus der sicheren Empfindung heraus, daß sie zum erstenmal in ihrem Leben ihr Herz schlagen hörte, weil sie aus ihrem Schlaf erwacht war.
    Sie ahnte nicht, wie wenig sich von dem, was in ihr vorging, ihrem kranken Freund mitteilte. Sie glaubte fest, er lese in ihrer Seele wie in einem geöffneten Buch, er wisse, was ihr selbst noch verborgen war, und sage und befehle alles im Hinblick auf seine tiefe Kenntnis ihrer innersten Beweggründe. Florence wurde das Entsetzen erspart, zu erfahren, wie wenig Tiroler von ihrer Hingabe an ihn wußte, ja, wie vollkommen ausgeschlossen ihm ihre Bereitschaft erschien. Seine Fähigkeit, in Florence etwas anderes wahrzunehmen als das, was er in ihr vermutete, wurde in dem Maße, in dem es ihm schlechter ging, eher noch geringer. Tiroler begann, alle Kräfte seines Verstandes und seiner Phantasie zum Kampf gegen die Todesangst zu mobilisieren, er fand diese Kräfte in der Nachbarschaft seiner Liebe zu Florence, dort, wo seine Eifersucht und sein Haß auf Stephan wohnten. Es mag verwundern, daß diese Gefühle stark genug waren, um den Seelenarzt von der Furcht vor dem eigenen Verlöschen abzulenken.
    |364| Jeder glaubt, daß die Angst vor dem Tod alle andern Ängste besiegt, weil der Tod ein Übel ist, das alle andern Übel übersteigt. Und dennoch scheitert die Seele immer wieder bei dem Versuch, ihr eigenes Verschwinden zu fühlen und zu denken. Wenn Tiroler an seinen Tod dachte, sah er ihn niemals, wie er sich für alle andern darstellte: daß nämlich die Welt fortbestand, ohne daß Henry Tiroler weiter auf ihr herumlief. Er erlebte seinen Tod eher wie eine Ohnmacht. Er sah die Möglichkeit, daß die Frau, die er liebte, nach seinem Tod in anderen Armen glücklich sein könne, als etwas an, das ihm auch nach seinem Tode noch Qualen bereitete, weil er diesem Beweis des Erlöschens ihrer Liebe mit gebundenen Händen würde zusehen müssen. Dabei glaubte Tiroler nicht an ein Fortleben der Seele nach dem Tode. Er folgte in seinen Phantasien lediglich einer biologischen Disposition der menschlichen Denkfähigkeit, der er sich um so tiefer auslieferte, als er sich ihrer transzendentalen Überhöhung verschloß. In diesen Nöten flüchtete er in das Netz seiner Untersuchungen. Es war ihm auf einmal das wichtigste, von Florence selbst wortwörtlich zu erfahren, daß ihr Herz allein ihrem Sohn gehöre und daß jeder, der sich sonst noch um ihre Neigung bemühe, damit einverstanden sein müsse, hinter Stephan zu rangieren.
    Was versprach sich Tiroler von einem solchen Bekenntnis? Er wußte bereits jetzt, wie tief diese Gewißheit ihn verletzen würde. Er wußte auch, daß er selbst dann, wenn er alles, wie er es forderte, von Florence vernahm, keinesfalls sicher sein durfte, ob sie das, was sie sagte, auch wirklich so meinte, nicht weil sie ihn hätte belügen wollen, sondern weil ihm aus seinem Arbeitsleben die Unfreiwilligkeit aller bewußten Aussagen geradezu zum Dogma, zur Prämisse seiner Bemühungen geworden war.
    Wie einfach werden schließlich die verzweifelten Wünsche der kompliziertesten Menschen. Wenn Tiroler zu Florence sagte: »Reisen Sie, kümmern Sie sich um Stephan, Stephan geht vor, lassen Sie mich hier allein«, dann wollte er nur die eine Antwort hören: »Ich reise nicht, ich kümmere mich nicht um Stephan,

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