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Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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zarter werdenden Keimhäuten so lange beschützt, bis das Sonnenlicht ihm nicht mehr schadete. Der Keim sproß empor, die Verdickung schwoll an, aber sie platzte nicht. Das wird sicherlich eine riesengroße Blume, dachte Florence, die keine Augen mehr für Tiroler hatte und die Pflanze mit solcher Spannung betrachtete, daß sie ihr sogar zuzureden begann, wie es |357| manche ihrer Freundinnen, die sich auf ihre Zuchterfolge viel zugute taten, taten, eine Übung, die Florence bis dahin höchst albern gefunden hatte.
    Ein zufälliger Seitenblick auf Tiroler ließ sie erschreckt innehalten: Ihr Freund war zusammengesunken, sein Gesicht war aschgrau, er wand sich unter stummen Krämpfen. Beim nächsten Wachstumsschub der Pflanze fiel er von der Bank und lag gekrümmt am Boden. Florence sah, daß sein Körper ein Kinderkörper geworden war; zugleich zeigte sich auf der weißen Knolle des fast mannshoch angewachsenen Keims ein haarfeiner Riß, die Öffnung stand unmittelbar bevor. »Nein«, flehte Florence die Pflanze an. Sie sprang auf und lief zu Tiroler hinüber, und tatsächlich gehorchte ihr die Pflanze, sie öffnete sich nicht und hielt das Geheimnis ihres Inneren vor Florence für immer verborgen. Für Tiroler war diese Intervention freilich zu spät gekommen. Als Florence ihn erreichte, lag er schon tot und kalt zu ihren Füßen.
    Längst war Florence aufgefallen, daß sich Tirolers Ton verändert hatte, wenn er von Stephan sprach. Es lag etwas Insistierendes in seinen Fragen, die sich strenggenommen immer weniger mit Stephan selbst beschäftigten als mit Florence’ Verhältnis zu ihrem Sohn. Tiroler wollte neuerdings wissen, ob sie glaube, daß Stephan sie liebe, ob sie spüre, daß Stephan ihr ähnlich sei, ob Stephan und auf welche Weise er ihr einmal einen Schmerz zugefügt habe, wie sie zu Stephans Eitelkeit stehe, ob sie unter Stephans Untätigkeit leide, welche Zukunft sie sich für Stephan erträume, ob sie sich schließlich ein Leben ohne Stephan vorstellen könne. Florence wollte Tiroler so gern zufriedenstellen. Sie gab sich die größte Mühe bei ihren Antworten, und sie spürte doch immer wieder, wie sehr sie ihn enttäuschte und wie wenig das, worauf er eigentlich hinauswollte, in ihren Antworten anklang.
    Zugleich wunderte sie sich darüber, daß er, wenn sie ihm alles, was sie zu dem angesprochenen Komplex zu sagen gewußt hatte, mitteilte, nicht einfach weiterfragte, wenn ihm ihre Auskünfte sichtlich nicht genügten, denn sie hatte keinen anderen |358| Wunsch mehr, als ihn zufriedenzustellen, ein Wunsch, der sich ihres gemeinsamen Themas freizügig bediente in der vorsichtigen Ahnung, daß Stephan längst nicht mehr den wahren Gegenstand ihrer Unterhaltung bildete.
    Aber auch Florence war nicht immer offen und frei Henry Tiroler gegenüber. Gerade das Abendessen an seinem Geburtstag störte ihre Beziehung für ein paar Tage empfindlich. Anstatt sie auf Willy zornig zu machen, hatte sie der Abend in eine Fülle von Überlegungen gestürzt. Sie zweifelte, ob sie eigentlich ein Recht habe, auf Willy böse zu sein. Sie scheute noch davor zurück, sich genau einzugestehen, worin ihr Unrecht Willy gegenüber bestand, aber sie fühlte, daß es ein solches gab, und sie gestand sich auch ein, daß dies Unrecht im Umkreis ihrer Freundschaft mit Tiroler zu suchen war. Sie fühlte sich auf einmal beschmutzt, wenn sie an die Atmosphäre ihres strahlend erleuchteten, mit holländischen Stilleben ausgestatteten Speisezimmers dachte. Die ganze Idee einer solchen Veranstaltung schien ihr geschmacklos, kompromittierend, mesquin. Und was hatte sie dazu veranlassen können, sich in eine solche Situation zu begeben? Sollten es tatsächlich ihre Empfindungen für Tiroler gewesen sein? Dann wäre es seine Aufgabe gewesen, sie von ihren Plänen zurückzuhalten, und zwar nicht nur als Gentleman, sondern gerade auch als Freund, oder wie immer man seine Position zu ihr bezeichnen wollte.
    Da ein Gedankengang, der zum Ergebnis hatte, daß anderen als ihr selbst die Verantwortung für irgendeinen Vorfall zufiel, in ihrem Kopf an sich nicht vorgesehen war, konnte er, nachdem sie ihn ausnahmsweise einmal gedacht hatte, auch nicht vollständig oder für längere Zeit von ihr Besitz ergreifen. Dennoch tat die Kränkung, die in den Ereignissen des Geburtstagsdiners und ihren Ursachen lag, Florence eine Zeitlang weh, brachte sie aber schon dadurch Tiroler wieder ein Stück näher, daß sie sich eingestanden hatte, wieviel Einfluß

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