Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
Vom Netzwerk:
Fahrten von Vichy nach Paris. Unüberwindbare Hindernisse wichen vor seinem Paß beiseite wie die Felsenwände auf Ali Babas magischen Befehl. Diese Leichtigkeit der Bewegung, die in der Gegenwart der Gewalt erst richtig sichtbar wurde, gab Stephan das Gefühl, auf einer Wolke zu leben, und er genoß dieses Erlebnis bis zur Selbstvergessenheit.
    |370| Anderen Kummer brauchte er nun allerdings auch nicht zu vergessen, denn es gab in seiner nächsten Familie niemanden, um den er hätte fürchten müssen, weil sich alle zur rechten Zeit in Sicherheit gebracht hatten, und die Regungen des Mitleids für Leute, die er nicht kannte, blieben ihm zeit seines Lebens fremd. Aber nicht einmal damit war Stephans Unbeschwertheit befriedigend zu erklären, denn es besteht Anlaß zu dem Verdacht, daß er sich selbst dann, wenn seine Eltern den verhängnisvollen Fehler begangen hätten, in Frankfurt auszuharren, wenig Gedanken gemacht hätte: Krieg und Verfolgung, die für alle anderen Menschen Ursache des Jammers waren, schufen eine Luft, die ihm das Atmen nicht nur erleichterte, sondern es ihm geradezu zum Genuß machte, wobei er allerdings noch nicht in die Lage geraten war, um seine Haut besorgt sein zu müssen, weil sein Laisser-passer ihn mit einem unsichtbaren Schutzmantel umgab.
    »Ich verstehe genau«, rief Dr. Tiroler während einer ihrer Sitzungen, »ich kenne diesen Fall genau. Das war dein persönlicher Krieg gegen Hitler, nicht wahr? Geschichte, Solidarität, Politik – das interessierte dich nicht. Für dich gab es nur zwei Menschen auf der Welt – dich und Adolf Hitler. Einer mußte gewinnen. Ein tödliches Spiel von gleich zu gleich, ohne Moral, ohne ein weiteres Ziel. Du bist eben ein kleiner Sieger, als Sieger erzogen, zum Siegen verurteilt. Aber das lassen wir jetzt erst einmal, das kommt später dran, wenn wir vertiefen.«
    Die Scham, die Stephan bei diesen Worten empfand, hatte übrigens diesmal ausnahmsweise nichts damit zu tun, daß Tiroler über ihn sprach, im Gegenteil. Dem in persönlichen Bemerkungen sonst heiklen Stephan wurden die ausschweifenden Monologe Tirolers über seinen Charakter allmählich immer angenehmer, obwohl es ihm unmöglich war, sich in diesen Erörterungen auch nur silhouettenhaft wiederzuerkennen. Der meditative Ton der Überlegungen Tirolers, die um den prekären Seelenkern Stephans kreisten, vermittelte ihm die Empfindung einer kosmetisch-hygienischen Prozedur, der er sich ebenso entspannt hingab wie einer von sensiblen Fingerspitzen ausgeübten Kopfhautmassage. |371| Tiroler leistete ein Zauberkunststück in Stephans Augen. Er beschäftigte sich mit all seiner Geisteskraft mit Stephan, aber er sagte dabei niemals etwas, dem Stephan hätte zustimmen können. Dabei blieben Tirolers Deutungen meist im Allgemeinen. Sie enthielten nichts, dessen man sich hätte schämen müssen, denn er vermied jeden moralisch klassifizierenden Tonfall und wußte seine Darlegungen in einer Weise zu färben, die auch die bedenklichste Seelenkonstruktion noch bedeutend und reizvoll erscheinen ließ.
    Auf dieser Argumentationshöhe zu widersprechen erschien Stephan nicht nur sinnlos, sondern auch ein Zeugnis mangelnden Geschmacks und sozialer Ungeschliffenheit. Bei der Vermutung über Stephans Motive in Frankreich während der deutschen Besetzung, die Tiroler in seiner bewährten Übung dem Patienten in falsch affirmativer Form wie eine Zeugenaussage unter die Nase hielt, wurde Stephan dennoch unbehaglich zumute. Gewiß, das, was Tiroler sich da ausgedacht hatte, war nicht falscher als seine übrigen Eingebungen, aber es war erheblich konkreter, es bewegte sich in der Zone einer Verbindlichkeit, die es verbot, sich behaglich ausgestreckt um eine Stellungnahme zu drücken. Niemals berührte Tiroler die Sphäre des Tatsächlichen in gleicher Weise wie jetzt, wo er Stephans Verhalten während des Krieges beschrieb. Stephan spürte deutlich, daß diese Beschreibung nicht ebenso in das Reich des L’art pour l’art zu verweisen war wie Tirolers Vortrag über Stephans Liebe zu den Pudeln und den Spitzen, und wenn er dennoch keine Bedenken anmeldete, dann erfüllte ihn diese Unterlassung doch mit einem peinigenden Gefühl der Unruhe, wie es den unter falschem Namen reisenden Hotelbetrüger befällt, wenn er in der Halle einen Kellner erblickt, der im fernen Monte Carlo Zeuge seiner diskreten Entlarvung durch den Hoteldetektiv geworden war. Stephan protestierte nicht, als Dr. Tiroler ihn zum einsamen

Weitere Kostenlose Bücher