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Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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höchsten Verblüffung |376| feststellen mußte, daß der typisch romanische, braungebrannte, ausgemergelte Familien- und Wirtshausparasit ebenfalls aus Frankfurt am Main stammte.
    Stephan war später als sonst im Café erschienen, die meisten Leute waren schon zum Mittagessen nach Hause gegangen, und die Terrasse lag leer da bis auf den einsam an einem Tischchen ausharrenden Dr. Frey, der wie immer in die Höhe schoß, als Stephan auf der anderen Straßenseite aus der schmalen zweiflügeligen Tür des Hotels kam, einen Radfahrer abwartete und dann über die Straße seinem Morgenkaffee entgegenging.
    »Zwanziger«, sagte Herr Dr. Frey plötzlich, als Stephan in seiner bequem geöffneten Leinenjacke auf Freys Stuhl Platz genommen hatte. Stephan zuckte bei dem Wort zusammen, das ihm Dr. Frey, der schräg hinter ihm einen Stuhl gefunden hatte, ins Ohr raunte, wie Jago auf der Bühne zu Othello spricht.
    Er begriff zunächst gar nicht, was »Zwanziger« eigentlich heißen sollte, aber seine Nasennerven erinnerten sich augenblicklich an einen bestimmten Geruch, der mit diesem Wort zusammenhing: Mottenpulver, Dünste, die von feuchtem Stoff unterm Bügeleisen aufstiegen, der ungesunde Likör-Atem eines gallengelben Zwerges, der zu Stephans Füßen kniete, die schmalen Lippen zusammengepreßt, um mit ihnen mehrere Stecknadeln zu halten.
    »Erlauben Sie?« fragte Dr. Frey und ergriff Stephans lose herunterhängenden Rockschoß. »Ich habe das Schildchen schon von weitem gesehen. Sehen Sie hier.« Und nun rückte er näher, öffnete die eigene schwarze Jacke, in der er offensichtlich auch seine Nächte zubrachte, nach ihrem verbeulten und verfleckten Zustand zu schließen, und wies auf einen Fleck auf dem grauen Seidenfutter, der ein wenig dunkler leuchtete als der übrige Stoff und in dem noch Reste von Fäden hingen.
    »Ich habe es herausgetrennt«, flüsterte Dr. Frey, »es braucht niemand hier zu wissen, daß ich nicht aus Straßburg komme.« Stephan reagierte betroffen und angewidert. Die schmutzige Jacke unter seiner Nase verstörte ihn ebenso wie der Überfall und die ganze Geheimnistuerei. Er hatte noch nicht die geringste |377| Zeit bei all diesen primären Eindrücken gefunden, sich über den Umstand, daß ihn ein Deutscher hier im Süden Frankreichs an seiner Jacke identifizierte, gebührend zu verwundern. Stephan war begriffsstutzig, was er im einzelnen wahrnahm, konnte ihn in ein Grübeln versetzen, das verhinderte, daß er bemerkte, welches Ganze diese einzelnen Teile bildeten.
    Es war ein Zufall von besonderer Ironie, daß Dr. Frey nun ausgerechnet an einer Jacke von Zwanziger die Frankfurter Herkunft Stephans erkannte, denn Stephan hatte den tüchtigen Handwerksmann niemals ausstehen können. Die Leinenjacke, die er an diesem Vormittag in Narbonne trug, war das letzte Stück, das Stephan aus einem Atelier besaß, das zu beauftragen Willy Korn ihn in mühevollen Auseinandersetzungen gezwungen hatte. »Was gut genug für mich ist, ist auch gut genug für dich«, beendete Willy den Streit, ein Argument, dem Stephan nicht hätte widersprechen können, ohne an die Grundlagen ihrer Beziehung zu rühren, und dies vermied er getreu der unausgesprochenen Verhaltensmaßregeln, die Florence in eiserner Schulung ihrer Familie eingeprägt hatte, wobei sie sich häufig fragte, ob Willy diese Zurückhaltung überhaupt zu schätzen wisse oder ob er am Ende gar glaube, diese schonungsvolle Behandlung sei eine von Bewunderung und Respekt gestützte Selbstverständlichkeit. Natürlich war es aussichtslos, Willy klarzumachen, daß Zwanziger keinen besonders begnadeten Zuschneider besaß, im Gegenteil, Willy adaptierte noch mit vorzüglichem Vergnügen die augenwischerischen Sprüche des stellvertretenden Geschäftsinhabers, der bei jeder Reklamation, ob es sich nun um einen verschnittenen Rücken, ungleich lange Hosenbeine oder Zugfalten an der Knopfleiste handelte, den kritischen Kunden mit der Verheißung zu begütigen versuchte: »Des bügele mir noch raus.« Anstatt sich über dies Betragen zu entrüsten, nahm Willy diesen Satz in seinen Sprachschatz auf und fügte Stephan damit täglich neue Pein zu, der sich durch die väterliche Anerkennung des schlauen Handwerksmannes doppelt gekränkt sah.
    Dr. Frey klammerte sich inzwischen mit Impertinenz an die |378| Ausweiskraft des fehlenden Schneiderschildchens. Er glaubte zunächst, daß Stephan, der mit abgewandtem Kopf und blindem Blick seinen Erinnerungen nachhing, den Fleck

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