Das Bett
antwortete: »Des is nix, hörste, nix is des.« Stephan blickte sie nachdenklich an und sagte: »Du bist ganz schön blöd.« »Sagt der, ich bin blöd«, sagte Agnes.
Die beiden Menschen standen eine Weile stumm da und musterten sich so lange, bis in ihnen die Erregung wieder auf den Boden der Seele gesunken war und der schneckenlangsamen Fortsetzung des Spazierganges nichts mehr im Wege stand. Dann wandten sie sich voneinander ab, nahmen beide wieder den Horizont ins Visier und setzten die Füße voreinander, bis ein neuer, am Boden liegender Gegenstand Stephans Aufmerksamkeit in Anspruch nahm oder bis sie die von Florence vorgeschriebene Anzahl von Schritten in der frischen Luft erfüllt hatten.
Als Stephan sechzehn Jahre alt wurde, wies Florence Agnes an, ihn von jetzt an zu siezen und »Herr Stephan« anzureden.
Agnes erfüllte nur den zweiten Teil der Vorschrift. Sie sagte zu Stephan »Herr Stephan«, ohne daß er oder sie das geringste dabei fanden, aber sie blieb beim »Du«, das zusammen mit der formellen Anrede aber nicht eigentlich vertraulich wirkte, sondern altertümlich, wie aus einem Ritterstück von Grillparzer. Sie fuhr mit dem »Du« übrigens nicht fort, weil sie Florence, die ihr gleichgültig war, hätte ärgern wollen, sondern weil das »Sie« in ihrer eigenen Sphäre nicht üblich war. Man sagte »ihr« oder auch »du« selbst dann, wenn man nicht befreundet war und bei uneingeschränkter Benutzung der bürgerlichen Anrede, so daß Agnes beispielsweise zu der Metzgerin zu sagen pflegte: »Frau Waibel, gebst du mir ein Stück Fleischwurst«, obwohl sie die Frau Waibel, die es zu achtungsgebietendem Wohlstand gebracht hatte, nicht näher kannte.
»Herr Stephan, was wünschst du dir denn zum Christkind?« fragte sie also, ohne eine Antwort zu erwarten, während sie bügelte und er in einem Buch über die erregenden Fortschritte der Luftfahrt las.
|50| An Weihnachten, das auch in der Familie Korn mit Lichterbaum und Bescherung gefeiert wurde, schenkte sie ihm dann etwas Gestricktes, das Stephan nie und unter keinen Umständen getragen hätte, das er aber in einer besonderen Kommodenschublade seines großen Schlafzimmers sorgfältig aufhob. Er hingegen schenkte ihr ein von seinem großzügig bemessenen Taschengeld gekauftes Schmuckstück bescheidener Art, das sie niemals anstecken würde, aber ebenso sorgfältig in einem Lederkästchen, einem Geschenk Stephans von seiner Florenzreise, verwahrte. Beim Austausch der Geschenke, das heißt, wenn sie sich ihre Päckchen entgegenstreckten, während Florence das Menuett von Boccherini auf dem Flügel spielte, sagten sie beide: »Da!« Dann, nachdem sie es ausgepackt hatten, sagte jeweils der Schenkende zum Beschenkten: »Kannstes gebrauchen?« Der Beschenkte antwortete: »Och Gott, ja.«
Dann setzte man sich zur Gans ins Eßzimmer, wo im Kronleuchter die elektrischen Kerzen brannten.
Die Jahrhunderte der Literatur, die von der Liebe handelt, haben unsern Blick auf die stürmischsten und die sanftesten Formen der Liebe gelenkt, auf ihre Verkehrtheiten und auf ihre Verwandtschaft mit dem Haß. Möglicherweise sind wir für die Liebe, die zwischen Agnes und Stephan bestand, blind, weil sie unausgesprochen, undramatisch und unbewußt war, vergleichbar den Gefühlen, die der Efeu der Eiche gegenüber empfindet, die er umrankt, oder denen der kleinen Vögel am Nil für die Krokodile, denen sie die Zähne putzen.
Diese geradezu prähistorische Art der Liebe, die Stephan und Agnes mit unsichtbaren, symbiotischen Fäden verband und die niemand je entdeckt hätte, wenn nicht Florence, als die Korns Deutschland verließen, versehentlich einen der großen Koffer Stephans geöffnet und dort, statt Stephans seidenen Morgenröcken und Kaschmirpullovern, ein Sammelsurium der abscheulichsten hellgrauen Wollartikel – Puls- und Nierenwärmer, Unterhosen, dicke kratzige Socken und Ohrenschützer – gefunden hätte, diese Liebe, die kein Wort des Abschieds brauchte, keine Tränen, keine Briefe, ist die Erklärung für die Richtung, die Stephan |51| Korn sofort einschlug, nachdem er zur Reorganisation der Autoreifenfabrik zurück nach Frankfurt gekommen war.
Ob es ihm schon in New York klargeworden war, daß der Zustand seines Gemütes kritisch wurde, oder ob ihn der Instinkt zum Ausbruch der Krankheit rechtzeitig an einen sicheren Ort führte, wie er die Vögel vor hereinbrechenden Wetterstürzen warnt und sie veranlaßt, kleine Höhlen und Wurzelspalten
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