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Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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Sie war jung und heiter geworden, und sie empfing den Kuß, den ich ihr aus einer Augenblickslaune heraus auf die Wange gab, eine Zärtlichkeit, die ich ihrem hartnäckigen Flehen sonst grundsätzlich verweigerte, mit freundlichem, aber zerstreutem Lächeln, das mich noch mehr verblüffte als mein Einfall, sie zu küssen.
    |453| »Ach Gott, Küsse«, sagte sie verträumt, »Küsse habe ich bekommen, so viele, daß ich sie gar nicht zählen kann. Alle wollten sie mich küssen. Aber nur einem habe ich das erlaubt. Denn zum Küssen, da gehören zwei dazu.« Die Einfalt dieses letzten Satzes, der vielleicht aus einem Schlager stammte, konnte meiner Tante nichts anhaben. Ihre gute Laune machte alles, was sie sagte, funkelnd neu und originell, und sei es vorher noch so abgenutzt gewesen. »Wir saßen schon im Flugzeug, als wir uns küßten«, fuhr sie beinahe geschäftsmäßig fort. Sie erwähnte nicht, mit wem sie im Flugzeug saß, aber das war auch nicht notwendig für mich, denn die Identität ihres Begleiters verstand sich eigentlich von selbst.
    »Hattest du keine Angst?« fragte ich.
    »Wir hatten doch Fallschirme«, antwortete meine Tante mit dem nachsichtigen Lächeln, das man den Naiven schenkt. »Wir hatten jeder einen riesigen himmelblauen Fallschirm, der genauso himmelblau wie der Himmel selbst war.«
    »Unsichtbar für die Feinde, die denken sollten, daß ihr fliegen könnt«, sagte ich und spürte, daß ich nun endlich in der Welt, die meine Tante so beiläufig vor mir ausrollte, zu Hause war, und daß ich die Geschichte im Grunde allein hätte weiter erzählen können.
    »Oh, die Feinde«, sagte meine Tante, und ich lernte bei diesem Wort zum erstenmal auf ihrem Gesicht den Ausdruck der Geringschätzung kennen, eine Empfindung, die es bis dahin nicht bei ihr gegeben hatte. »Weißt du, er ist dermaßen wild, daß sie ihn sowieso schon fürchten. Er ist immer wild, er küßt wie ein Tiger, er beißt auch, manchmal auch mich, man weiß es nie vorher, ob man ihn irgendwie geärgert hat.«
    Keine dieser Eröffnungen konnte mir von ihrem Inhalt her erstaunlich sein. Der Kampf, den die verschiedenen Wirklichkeiten, die ich wahrnahm, um die Approbation durch meine Vernunft führten, schwankte lange unentschieden hin und her. Noch vermischten sich die Sphären, ohne sich zu stören, so daß mir die Welt der Verkehrsampeln und Zahnärzte, der Gespräche meiner Eltern und der Suppen, die dabei gegessen wurden, |454| mühelos mit den überall lauernden Dämonen und den Zauberkräften meines Bären verschmolz. Es war ein neuer Aspekt, daß mein Bär und Stephan so viele Ähnlichkeiten besitzen sollten. Aber diese mir durch meine Tante überraschend offenbarte Verwandtschaft gefiel mir so gut, daß Stephan und mein Bär für mich identisch wurden, und nun gab es nicht mehr den geringsten Grund, meiner Tante noch mit Reserve zu begegnen, im Gegenteil, ich trieb sie an und half ihrer manchmal stockenden Rede nach, denn meine Tante war naturgemäß im Machtbereich des Bären Stephan noch nicht lange genug zu Hause, um darüber schon so viel wie ich zu wissen. Ich spürte nicht die kleinste Eifersucht darüber, daß meine Tante nun auf einmal, nach so langer, widerspenstiger Abstinenz, den Bären ganz vereinnahmen wollte, denn einmal hatte sie das majestätische Tier um die Hinzufügung der Persönlichkeit Stephans bedeutend bereichert und mich damit dermaßen verblüfft, daß die Regionen des Herzens, in denen der Besitztrieb wohnt, von der stärkeren Reizung der Neugier betäubt wurden, und außerdem schien sie ihm ebensoviel Ehrfurcht und Liebe, wie ich es tat, entgegenzubringen. Er hingegen behandelte sie in ähnlich gefährlicher und undurchschaubarer Weise, wie ich es an ihm gewohnt war.
    »Warst du denn nackt im Flugzeug?« fragte ich schließlich und vergaß, daß eine solche Frage von den üblichen Unterhaltungen mit meiner Tante so weit entfernt lag, daß ich eigentlich aus meinem Rausch hätte erwachen müssen. Normalerweise weigerte ich mich bereits, die Gegenwart meiner Tante zuzulassen, wenn ich gebadet wurde, und meine Tante war stets betrübt darüber, daß sie meine Mutter nicht in einer Arbeit unterstützen durfte, die ihrer unbeholfenen Kinderliebe so sehr entsprochen hätte. Auf meine Frage, die ich nun auch für sie überraschend stellte, zögerte sie zunächst, jedoch nicht etwa deshalb, weil sie schockiert gewesen wäre und weil sie mich hätte zurechtweisen wollen und dafür nach Worten suchte,

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