Das Bett
und wie sie sie uns bisher stets verbieten wollte. Meine Tante hatte auf dem Seminar und aus ihren Zeitschriften gelernt, daß es die vornehmste Aufgabe des Erziehers sei, Augen und Ohren der Heranwachsenden von allen Darstellungen der Gewalttätigkeit fernzuhalten. Bereits wenn sie sah, daß ich mit meinem Kasperlepuppenkrokodil, dessen roter Rachen sich so weit öffnete, wie ich meine kleine Hand |451| spreizen konnte, meinem Teddybären in die starken Extremitäten biß, versuchte sie, mich abzulenken, indem sie mich mit harmloseren Spielen lockte und sogar mit ihrer hellen Knabenstimme ein freundliches Lied sang. Wenn nichts half, verfiel sie auf den Gedanken, mir das Gefühlsleben des Teddybären vorzuhalten, über das ich selbst nun freilich besser unterrichtet war, als sie es sein konnte. Ich wußte, daß der Bär nicht traurig war, wie meine Tante behauptete. Ich wußte, daß er kräftige Bisse liebte und daß er imstande war, gelegentlich selbst welche auszuteilen. Ich wußte auch, daß die Stimme, mit der meine Tante um die Schonung des Teddybären flehte, um so zu tun, als bettele er beim Krokodil um Gnade, nie und nimmer die Stimme meines Bären sein konnte. Sie piepste, um besonders mitleiderregend zu wirken, wohingegen die Stimme des Teddybären, die ich nachts vernommen hatte, das Grollen eines Vulkans war. Dieser Bär hatte mein Krokodil schon tausendmal aufgeschlitzt und seinen Körper wie einen Handschuh umgekrempelt, und wenn das Raubtier aus dieser ausweglosen Lage nicht schon wiederholt von der Fahrrad fahrenden Rotekreuzschwester befreit worden wäre, hätte es seine letzten Lebenstage längst würgend in unserem Vorgarten unter einem heftig lilablühenden Rhododendronstrauch gelegen.
Meine Tante von dieser wahren Lage der Verhältnisse zu unterrichten wäre mir als aussichtsloses Unterfangen erschienen, ebensowenig wie es ihr gelang, mich für die Welt der Karussell fahrenden Nilpferde, in die Schule ziehender Kätzchen und Veilchensträußchen pflückender Äffchen zu interessieren. Wenn es überhaupt in den Geschichten, die sie bevorzugte, spannend werden durfte, kam etwa ein tapferer kleiner Flugzeugpilot darin vor, der mutig ein wichtiges Medikament für ein armes krankes Kind über die Alpen bringt, der aber immer rechtzeitig genug landete, um das Entstehen einer uferlosen, unbesiegbaren Trauer, von Schmerzensschreien, die ein anspruchsvolles Publikum beschäftigen könnten, zu verhindern. Ich bemerkte diese Wendung zum Hoffnungsvollen schon bald. Sie teilte sich stimmungshaft im Grunde schon in der Exposition solch einer Geschichte mit, |452| die doch eigentlich noch die Möglichkeit eines guten Ausgangs zweifelhaft erscheinen lassen wollte. Mit der Hoffnung kehrte auch die Langeweile in meinem Herzen ein. Ich gab es bald auf, noch weiterhin zu tun, als höre ich zu. Der wahre Grund, warum meine Tante immer wieder versuchte, diese Art von Büchern bei uns anzupreisen, lag übrigens nicht allein in der Überzeugung, daß solche Geschichten für die Bildung der jungen Seele humanisierende Nahrung enthielten, sondern in dem von der Wirklichkeit nicht zu erschütternden Glauben, daß Kinder reifer als die Erwachsenen seien und dem Schrecken keinen ästhetischen Reiz abgewinnen könnten.
Wie köstlich war meine Überraschung deshalb, als ich bemerkte, daß die Geschichte, die meine Tante uns einen Tag nach ihrer Rückkehr aus Kronberg, nachdem sie ihre Klausur aufgegeben hatte, mit frisch gefaßtem Mut zu erzählen begann, in keiner Hinsicht dem glich, was sie uns sonst vorsetzte, was man schon am Anfang merkte, so deutlich formten sich die Sätze aus anderem als dem bei ihr gewohnten Stoff. Ihre schönen Augen glänzten, wenn sie innehielt, um sich an Details ihrer Erzählung zu erinnern, als handele es sich um ein wirklich erlebtes Abenteuer und nicht um etwas zur Erheiterung von Halbwüchsigen Ausgedachtes, und auch das war etwas Neues, denn sie hatte es vorher immer mit der Wahrheit sehr genau genommen und damit jedem ihrer Berichte in meinen Augen die letzte Würze entzogen.
Später hätte ich den neuen Ausdruck, mit dem meine Tante auf einmal sprach, wahrscheinlich als hemmungslos bezeichnet, aber damals begann ich mich in ihrer Nähe wohler zu fühlen und war geneigt, ihren Worten mehr Gewicht als früher beizumessen. Ihre Sätze schweiften nun frei umher wie die Schwalben. Überhaupt war jede Form von Anstrengung, die ihr sanftes Gesicht so häufig entstellt hatte, von ihr gewichen.
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