Das Bett
sondern ganz offensichtlich aus dem Grund, weil sie sich in ihrer Erinnerung wieder zurechtfinden mußte. Ich sah ihr an, daß ihr meine Frage gefallen hatte, aber sie war sich einfach nicht ganz sicher, ob sich ihr Erlebnis |455| tatsächlich so zugetragen hatte, wie ich es ihr nahelegte und wie sie es sich vielleicht auch gewünscht hätte, und sie war auch jetzt, da sie sich meiner eigenen Gedankenwelt angenähert hatte, ernstlich beflissen, keineswegs leichtfertig etwas zu behaupten, was sich bei Überprüfung als unwahr hätte herausstellen können.
»Ich glaube«, sagte sie langsam und ließ den Mund, der die unerhörte Vermutung so unwillig entlassen hatte, halb offenstehen, so daß ihre feuchten Lippen im Sonnenlicht glänzten.
Ein einziges Mal hatte ich meine Tante nackt gesehen, und auch davon war mir eher die intellektuelle Gewißheit, daß sie nackt war, im Gedächtnis geblieben, als ein genauerer optischer Eindruck. Ich hatte vergessen anzuklopfen, und ihre unbekleidete Gestalt schoß mir blitzschnell entgegen, um die Tür wieder zuzudrücken. Eigentlich sah ich nur die Linien des Körperumrisses, weil der Körper selbst sich in der Geschwindigkeit, in der er sich auf mich zubewegte, verdunkelte, bevor die Tür ins Schloß sprang und drinnen der Schlüssel hastig zweimal herumgedreht wurde. So schattenhaft aber das Bild war, das mir im Gedächtnis blieb, hatte es mich doch zu meiner Frage anregen können, weil mir seitdem die Möglichkeit ihrer Nacktheit denkbar geworden war und weil diese Möglichkeit zugleich einherging mit dem Zauber eines sorgfältig gehüteten Geheimnisses, das hinter doppelt verschlossenen Türen bewahrt wurde, nicht anders als die rätselvollen Bildnisse, die in verwunschenen Schlössern hinter der zwölften Tür ihren magischen Alltag zubringen und von denen mir vorzulesen meine Tante bisher so gewissenhaft vermieden hatte.
»Ich war nackt, weil alles brannte«, sagte sie schließlich mit neugewonnener Fassung. »Überall war Feuer, auch in meinen Haaren, es tat weh und schnitt mich bis aufs Blut.« Außer mir vor Begeisterung klatschte ich in die Hände. »Und was machte er da, er hat dann doch etwas gemacht?« rief ich und sah meine Tante mit nie gekannter Liebe an.
»Er machte mit den großen Schrauben die vielen weißen Giftblumen kaputt, die überall auf den Bäumen wuchsen. Wenn |456| die Schrauben an sie rankamen, spritzten ihre Blätter durch die ganze Gegend, die ganze Straße war naß von ihrem Gift.«
»Was für Schrauben waren denn das?« fragte ich. Meine Tante war wieder zerstreut und antwortete nur obenhin, ohne mir dabei einen Blick zu schenken. »Nun, die großen Schrauben, die ein Flugzeug hat, er ist doch ein Flieger, ein Flugzeug fliegt doch mit zwei großen Schrauben. Es ist alles wie im ›Kleinen Prinzen‹, ich habe dir doch die schöne Geschichte oft vorgelesen.« Die Erwähnung dieser Erzählung, die die Lieblingserzählung meiner Tante war, brachte mich augenblicklich um meine Stimmung. Niemals hatte mich meine Tante mehr gelangweilt als mit dem ›Kleinen Prinzen‹. Daß ich schließlich nun doch wieder zu diesem verabscheuten Buch zurückgeführt werden sollte, empfand ich als Heimtücke, und im Nu stiegen Ungeduld und Gereiztheit, die sonst mein Verhältnis zu meiner Tante prägten und die ich während der letzten Weile vergessen hatte, wieder in mir hoch, und Verachtung klang in meiner Stimme, als ich ihr antwortete: »Du bist aber dumm, das sind doch keine Schrauben, das sind Propeller. Wofür liest du denn immer den ›Kleinen Prinzen‹, wenn du das nicht weißt?« Meine Tante hörte mich nicht, obwohl das Wort »Propeller« durch ihre plötzliche Abwesenheit hindurchdrang und von ihr sofort aufgegriffen wurde.
»Propeller, Propeller«, sang sie vor sich hin, als sei sie allein, niemals hatte in ihrer Stimme soviel unbekümmerte Heiterkeit gelegen. Sie öffnete die Kommodenschublade und warf rücksichtslos ihre sorgfältig gefaltete Unterwäsche durcheinander, dann kroch sie unter das Bett und suchte lange im leeren Papierkorb. »Mein Hut, wo ist mein Hut? Ich weiß genau, ich hatte einen Hut!« murmelte sie und legte ihre Hände ratlos in den Schoß. »Dein Hut ist in der Garderobe«, sagte ich, und weil sie mich nicht zur Kenntnis nahm und immer weiter die Sorge um den Hut in leisen Worten hin und her wandte, ergriff ich schließlich ihre Hand und zerrte sie aus dem Zimmer. Sie folgte mit eigentümlich tapsenden Schritten, unbeholfen wie
Weitere Kostenlose Bücher