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Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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verhielten sich in meinen Augen nicht, als müßten sie mit etwas Außerordentlichem fertig werden. Es war nicht Herzlosigkeit von meinen Eltern, daß sie die Entwicklung, die das Leben meiner Tante nun nahm, derart leichtfertig behandelten und daß sie nicht bestürzt genug waren, um in dem Ritual ihrer Tischgespräche einmal innezuhalten und an der Stelle meiner Tante, die die Fähigkeit dazu verloren hatte, deren Schicksal zu betrauern.
    Meine Eltern liebten meine Tante gewiß aufrichtig, hatten sie aber niemals recht ernst genommen und verfolgten ihre Hinwendung zu Stephan mit gutmütigem Spott. Mich auch weiterhin mit meiner Tante in die Kirche zu schicken, hatten sie jedenfalls nicht die geringsten Bedenken. Es muß ihnen zugute gehalten werden, daß sie meine Tante noch niemals hatten beten sehen; anders kann die Vorstellung, die sie später äußerten, daß nämlich der Besuch der Messe auf einen so frommen Menschen wie meine Tante nur beruhigend wirken könne, kaum entstanden sein.
    Am Sonntagmorgen bekamen meine Eltern sie erst gar nicht zu Gesicht. Sie war früh aufgestanden, wie sie es immer tat, und sie war schon fertig angezogen, als sie mich weckte und dafür sorgte, daß ich vor dem Aufbruch in die Kirche noch einen dünnen Tee und Toastbrot bekam, von dem sie natürlich nichts zu sich nahm, da sie die nächtliche Fastenzeit erst nach der Messe unterbrach. Im Gegensatz zum vergangenen Tag war sie schweigsam, aber ebenso freundlich wie gestern. Unser Verhältnis hatte sich seitdem geändert, daran ließ sie keinen Zweifel, und ich wiegte mich für den Nachmittag, wenn wir beide Stephan Korn gegenübertreten würden und mit ihm und meinem Bären im Auto sitzen könnten, in den schönsten Hoffnungen.
    Der Monsignore hatte gerade an diesem Sonntag das Evangelium von der Heilung des Besessenen und der Flucht des bösen Geistes in eine Schweineherde zu erörtern. Die Perikope berührte eine der Neigungen des Monsignore Eichhorn, der |462| schon als junger Priester ein Spezialist für die Metamorphosen des Beschwörungswesens seit der Antike geworden war und der nie aufhörte, magischen Phänomenen nachzuspüren, wo sie sonst niemand entdeckt hätte.
    »Sehen Sie«, sagte er etwa zu Ines Wafelaerts, die selbst seiner Lyrik nicht so viel Begeisterung entgegenbrachte wie seinen Forschungen über die Magie. »Sehen Sie, wir sind von magischen Symbolen in Wahrheit doch ganz eingesponnen. Goethe verzeiht den Künstlern den Aberglauben, weil er ihnen helfe, ihr Leben zu poetisieren. Oh, er war vorsichtig, er sagte nicht alles, aber Sie merken wahrscheinlich schon, worauf er in Wahrheit hinauswollte.«
    Ines Wafelaerts’ wiederholtes Kopfnicken enthielt pantomimisch weniger das Zugeständnis, daß sie selbst etwas merke, als die grundsätzliche Bereitschaft, die Erklärung, die alsbald folgen mußte, bedingungslos anzunehmen. Zur Hebung ihrer Laune trug bei, daß der Monsignore nicht versäumt hatte, Goethe frühzeitig ins Spiel zu bringen. Das gab dem Gespräch etwas vom Glanz der Goetheschen Autorität und verhinderte dennoch nicht, von dem großen Mann herablassend zu sprechen. Wenn der Monsignore nach langem Schweigen etwa die Bemerkung in das Zimmer tropfen ließ: »Ja, ja, der Herr Geheimrat – ein Schlaumeier«, und dann schweigend tat, als müsse dies Wort erst verhallen, dann war Ines außer sich vor Bewunderung, sogar noch in den Jahren nach dem Krieg, in denen eine gewachsene Skepsis sie geistig genügsamer gemacht hatte. »Aberglauben – Sie weichen aus, Herr Geheimrat«, rief der Monsignore in drohendem Ton, als habe er den Toten vor die Schranken eines Gerichts zitiert, um ihn ins Kreuzverhör zu nehmen. »Glauben Sie«, sagte der Monsignore zu Ines Wafelaerts, »er wußte in Wahrheit mehr, und er wußte es besser. ›Könnt’ ich Magie von meinem Pfad entfernen!‹ Haha, du alter Hexenmeister, hab’ ich dich.«
    Es gab eine Zeit im Leben von Ines Wafelaerts, in der sie nach den geheimnisvollen Privatissima des Monsignore geradezu süchtig war. Niemand von den bedeutenden Denkern, die sie in |463| ihrem Leben schon zu Rate gezogen hatte, vermochte ihr dies einzigartige Vergnügen zu bereiten. Der Monsignore gab ihr einerseits das Gefühl, alles, was er gedacht hatte, genauso wie er selbst zu denken und zu besitzen, und er ließ ihren Wissensdurst andererseits immer und ebenso vollständig unbefriedigt. Seine Worte zerfielen in der Erinnerung, wenn sich Ines aus seinem Dunstkreis entfernte –

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