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Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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wenn zwischen den Ereignissen nicht der mindeste Zusammenhang besteht.
    Stephan dachte an Frankreich, an die verborgenen Tage, in denen er eine Freiheit gespürt hatte, die er auch noch genießen konnte, als sie in Wahrheit eine Vogelfreiheit war, und er dachte daran, daß seine Mutter niemals herausbekommen würde, wie er wirklich in Frankreich gelebt hatte. Und er dachte an sein gegenwärtiges Leben, sein tägliches Ruhen in Agnes’ Bett und wie sorgfältig er auch dies vor seiner Mutter verbergen mußte, sorgfältiger vielleicht noch als die ohnehin nicht mehr zu rekonstruierenden Ereignisse in Frankreich.
    Als er soweit gekommen war, stand er schon in seinem Hotelzimmer und hatte den Mantel über einen Sessel geworfen. Draußen klopfte es, und der Etagenkellner übergab ein Telegramm: Es enthielt die Ankunftszeit seiner Mutter auf dem Frankfurter Flughafen und die Aufforderung, sie zu dieser Stunde abzuholen.
    Bei dieser Nachricht bestätigte sich eine weitere Eigenschaft des Melancholikers. Neben dem Schrecken, den das Telegramm in Stephans Brust verbreitete, entwickelte sich auch eine tiefe Befriedigung darüber, daß ihn die vorher noch ziellose Erwartung kommenden Unheils nicht getrogen hatte.

|77| III.
    Als Florence in ihrem kämpferischen Geist aufgebrochen war, um bei ihrem Sohn in Frankfurt nach dem Rechten zu sehen, war sie bereit, es mit jeder Person, in deren Fänge er geraten sein mochte, aufzunehmen und zugleich alle Dämonen und Gespenster, die ihn verdüstert haben könnten, zurück in ihre Flasche zu zwingen. Sie ertrug den Zustand der Ungewißheit schwerer als den der Niederlage. Wann immer sie in eine schwebende und spannungsreiche Situation geriet, wollte sie mit allen Kräften schnell eine Entscheidung herbeiführen, die sie selbstverständlich zu ihren Gunsten zu beeinflussen versuchte.
    Aber auch, wenn ihr Glück noch hin und her schwankte, wenn das Schicksal sich noch in einem prekären Gleichgewicht hielt, wenn Klugheit und Vorsicht dazu rieten, nicht durch eine unvorsichtige Bewegung den glücklichen Ausgang zu gefährden, mußte Florence, obwohl ihre Intelligenz ihr solche Einsichten nicht verschloß, handeln. Das Handeln war ihr Lebensgesetz, es war ihr nicht möglich, anders als handelnd am Leben teilzunehmen. Und wenn ihr als einzige Handlung gestattet worden wäre, ihr Leben zu beenden, hätte sie dies untätigem Weiterleben vorgezogen. Dabei waren ihre Aktionen nicht von blindem Eifer erfüllt. Sie war nicht unfähig zu taktischen Manövern, zu trügerischen Ruhepausen und scheinbarem Vergessen. Aber der nüchterne Plan vermochte ihre Husarengesinnung nur zu regulieren, und selbst als Regulativ war er nur einflußreich, wenn er im großen und ganzen gesehen ihren Schwung nicht hemmte.
    Einige Monate nach Stephans Abreise, als Florence immer |78| noch nichts von ihm gehört hatte, fand sie sich einmal in seinem Schlafzimmer wieder, aber weniger in der gedanken- und erinnerungsseligen Stimmung, in der sich Liebende einer Locke oder einem vergessenen Kleidungsstück widmen, oder in der Wehmut, in der andere Mütter die unbewohnten Zimmer ihrer ausgeflogenen Kinder betrachten, sondern eher wie ein Detektiv, der sich ganz auf den gejagten und sich immer wieder geschickt entziehenden Feind einstellen will und der sich in dessen Dunstkreis begibt, weil er vermutet, dort den Faden zu finden, an dessen Ende das zitternde Stück Wild angebunden ist.
    Die Jalousien waren heruntergelassen, Florence hatte kein Licht angemacht und saß ruhig in Stephans Schaukelstuhl aus gelbem Bambus, geräuschlos auf dem dicken Velours hin- und herschaukelnd. Sie atmete die Luft des verlassenen Zimmers durch die weißgeschminkten Nasenflügel ein und studierte ihre Zusammensetzung aus einer parfumhaltigen Schlafzimmerstickigkeit und einer anonymen Kühle. Dann erhob sie sich und öffnete eine Kommodenschublade, die Hemden und Unterwäsche enthielt, dann eine, in der Schlafanzüge und Sweater lagen, die dritte, deren Inhalt sie nachdenklich betrachtete: eine Sammlung von hellgrauen Wollsachen, Strümpfen, Schals und Nierenwärmern.
    Selbst wenn sie nun manchmal davon überzeugt war, daß Stephans Schweigen mit der alten Agnes zusammenhing, wäre sie dabei jedoch nie so weit gegangen, Agnes als ihren eigentlichen und ernsthaften Gegenspieler anzusehen. Das Wort »Agnes« war für sie im Hinblick auf Stephans Verhaltensweisen nicht der Name eines Menschen, sondern der eines Syndroms. »Agnes« war das ganze

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