Das Bett
Bündel der Ursachen und Erscheinungsformen von Stephans Zuständen. Sie benützte in ihren geheimen Überlegungen diesen alten Namen immer dann, wenn sie bei Stephan etwas beobachtet hatte, was sie nach Dr. Tirolers peinlich konkreten Erläuterungen nicht mehr mit unbefangenen Augen betrachten konnte. Die Person der Agnes war für sie viel zu stumpf und töricht, als daß von ihr selbständige Gefahren ausgehen konnten. Denn obwohl sie bereit war, der ihr von Dr. Tiroler |79| eindrucksvoll dargestellten psychoanalytischen Theorie in den Grundzügen denselben Glauben zu schenken wie der wöchentlichen Analyse der Weltwirtschaftslage im ›Wallstreet Journal‹, traute sie seelischen Kräften, die nicht zugleich mit Intelligenz gepaart waren, nur eine geringe Effizienz zu. Wie jeder Mensch, ging auch Florence in der Beurteilung anderer von dem Bild aus, das sie sich von sich selbst gemacht hatte. Und da sie von ihrer außergewöhnlichen Energie ebensowenig wußte, wie ein gesunder Baum, der alle andern Wipfel überragt, nichts von der Lebenskraft weiß, die ihn so hoch getrieben hat, hatte sie sich daran gewöhnt, jeden ihrer Erfolge allein ihrer Klugheit zuzuschreiben, die auch ihre Feinde niemals bestritten hätten. Die Ausstrahlung der Scharfsinnigkeit und Wissenschaftlichkeit überzeugte sie aber auch dann, wenn ihr einzelne Abschnitte eines brillanten Systems, wie das im Vortrag des Dr. Tiroler der Fall war, dubios oder schlichtweg unrichtig vorkamen. Ihre Loyalität für die Partei der Vernunft war so entschlossen, daß sie alles begrüßte, was unter ihrer Flagge segelte.
Natürlich war sie ganz sicher, daß Stephan weder in seiner frühen Jugend noch später sie oder ihren Mann jemals nackt gesehen hatte. Auch eine zufällige Beobachtung erotischer Handlungen der Eltern war zu jedem Zeitpunkt seiner Jugend ausgeschlossen, da die Eltern Korn ihre Schlafzimmer auf einer anderen Etage als die Kinder hatten und außerdem nach Stephans Geburt nicht mehr miteinander schliefen. Florence konnte schwören, daß Stephan niemals mit Kastration bedroht worden war, noch daß ihm irgend jemand die verheerenden Folgen der Selbstbefriedigung ausgemalt hatte, da sie der Ansicht war, daß diese Dinge nicht zum Gesprächsthema zwischen Eltern und Kindern werden sollten. Sie fragte sich, wie wohl die Milieus beschaffen waren, in denen solche Ereignisse so regelmäßig die Tagesordnung bestimmten, daß eine Allgemeingültigkeit beanspruchende Theorie darauf gegründet werden konnte wie die, die Dr. Tiroler ihr vortrug. Sie hütete sich aber davor, diese Frage laut zu stellen, sondern folgte Dr. Tiroler Schritt für Schritt widerspruchslos durch das imponierende Gebäude seiner Gedanken, das trotz aller haarsträubenden |80| Details insgesamt so hygienisch wirkte, daß selbst Florence das Gefühl hatte, sich damit identifizieren zu können, ohne sich dabei zu beschmutzen.
Leider hatte Stephan im Umgang mit Dr. Tiroler eine gewisse Widerspenstigkeit gezeigt, so daß die klärenden Gespräche, die die beiden miteinander geführt hatten, bei weitem nicht so harmonisch abgelaufen waren wie die Unterhaltungen, die der Arzt mit Florence pflegte.
Dr. Tiroler weckte im allgemeinen die Neugier seiner Patienten, indem er ihnen sein analytisch-therapeutisches System einfacher, als es war, schilderte. Normalerweise gelang es ihm, seine Zuhörer ganz für sich einzunehmen, wenn unter seinen eindringlichen Reden die Erfolge und Mißerfolge, die Ängste, die unsympathischen Charaktereigenschaften und das Liebesleben nicht anwesender Personen unter das eiserne Gesetz wissenschaftlich bewiesener Zwangsläufigkeiten gerieten. Natürlich war Dr. Tiroler nicht indiskret. Er verfügte lediglich über ein wirkungsvoll auf den Laiengebrauch eingestelltes Instrumentarium seiner Theorie, das jedem seiner atemlos lauschenden Zuhörer binnen kurzem zu Gebot stand, um sich damit an die Erforschung der Seele seines Nachbarn zu machen. Die Überlegenheit, deren Empfindung Dr. Tirolers Vortrag seinen Neophyten also verschaffte, sollte in der Folge seinem Behandlungskonzept dienen: Seine Patienten, die sich bereits als erfolgreiche Analytiker fühlten, würden sich, wenn es dann an die Analyse ihrer eigenen Motive ginge, bereitwillig mit ihm, dem Arzt, identifizieren, sie würden die Zergliederung ihrer eigenen Seele mit wissenschaftlichem Interesse betreiben und wären auf diese Weise vor den häufig als demütigend empfundenen Phasen der Abhängigkeit, der
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