Das Bett
sie mußte sich um niemanden kümmern, und um sie kümmerte sich auch niemand.
Stephan hatte sie nicht vom Flugplatz abgeholt. Nachdem sie sich fast die Augen ausgeguckt hatte, war sie schließlich am Informationsstand an seinen Chauffeur geraten, mit dem sie Deutsch sprechen mußte und von dem sie erfuhr, daß Stephan eine dringende Verabredung habe und sie bitte, einstweilen in ihr Hotel zu fahren. Stephan wollte nicht, daß sie in seinem Hotel wohne, das war ein weiterer Anlaß für sie, sich aufzuregen, denn die Erklärung, es sei in Stephans Hotel kein Platz mehr gewesen, kam ihr von vornherein unwahrscheinlich vor. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie die Erfahrung gemacht, daß ein Hotel, und sei es bis auf das letzte Bett belegt, für sie nicht sofort und ohne große Vorbestellung eine Suite zur Verfügung hielt. Auch der Portier in Stephans Hotel lernte, daß es schwierig war, sich Florence zu widersetzen. Er händigte ihr nach kurzem, scharfem Wortwechsel den Schlüssel zu Stephans Zimmer aus und blickte zum Himmel, als ob er hoffe, daß sein mannhafter Protest dort oben zu seiner Entlastung zu Protokoll genommen werde.
Bald darauf war Florence bei Ines. Sie war so in Gedanken versunken, als sie dort ankam, daß sie vergessen hatte, den Brief meiner Tante, den sie im Zimmer ihres Sohnes gefunden hatte, in ihre Handtasche zu tun, sondern ihn noch in der Hand hielt, als sei dies der sicherste Gewahrsam für solch ein gewichtiges Dokument. Daran wäre die Begrüßung der Freundinnen beinahe gescheitert, da Ines Wafelaerts Florence weder die Hand geben |98| noch sie umarmen und auf die Wangen küssen konnte, denn sie hielt ihre kleine Handtasche und den Brief wie ein Kind auf die Brust gedrückt.
Ines hatte Florence noch nie in solcher Stimmung erlebt, aber die Umstände, unter denen sie nach der Bombardierung ihrer Villa lebte, waren nicht dazu angetan, Florence mit der Kraft einer altvertrauten, gepflegten Umgebung zu beruhigen.
Der Flur war dunkel und eng, an den Wänden standen beschädigte, billige Koffer und zum Platzen gefüllte Pappkartons, und als Ines ihre Freundin endlich an all diesen hinderlich in den Weg ragenden Gegenständen in das Zimmer geführt hatte, in dem sie nun wohnte und schlief, erschrak Florence vor dem trostlosen und häßlichen Durcheinander, das im Zimmer herrschte, und vor dem durch das Alter und die Krankheit veränderten Gesicht ihrer Freundin, die in ihrer halblangen, ziegelroten Jacke und ihrem schwarzen Turban aussah wie der verzweifelte Abdias in seiner geplünderten Höhle.
Florence war gewöhnt, ihr Herz auf der Zunge zu tragen, und so war es denn nicht weiter erstaunlich, daß sie, nachdem sie sich in diesem Zimmer umgesehen hatte, ihr eigenes Leid vergaß und ausrief: »Aber Ines-Darling, das ist ja entsetzlich!« Madame Wafelaerts war solche Ausbrüche bei Florence gewöhnt und nahm an ihrer Spontaneität keinen Anstoß mehr. Sie murmelte resigniert vor sich hin und räumte einen Packen Wäsche von einem Ledersessel, dessen Rückenpolster im Keller von einem Bombensplitter aufgeschnitten worden war und den Florence als Einrichtungsgegenstand von Ines’ altem Wintergarten wiedererkannte.
Während Ines mit dem Tauchsieder Wasser heißmachte, sah Florence sich so vorsichtig um, als könne jedes der ekelerregenden Insekten, die sie in dieser Behausung vermutete, sich in dem Augenblick auf sie stürzen, in dem sie es entdeckte. Sie war im Kern ihrer Seele davon überzeugt, daß es nur gebe, was man sehen könne. Sie glaubte sogar, daß der wahrnehmende Blick die vorher nicht vorhandenen Gegenstände erst erschaffe.
Neben dem ramponierten, übereinandergetürmten Hausrat, |99| den sie Stück für Stück identifizieren konnte und der damit allmählich den Charakter anonymen Mülls für sie verlor, weil mit dem Wiedererkennen auch die schönen Zimmer der Villa vor ihrem geistigen Auge entstanden, die diese Sachen einstmals beherbergt hatten, entdeckte Florence auch Neues, was sie noch nicht kannte, vor allem große Schwarzweißphotographien von Tieren, einem Eisvogel auf einem Ast oder einem Fohlen auf der Weide.
Als sie darauf zeigte, antwortete Ines ihr erstaunt: »Ach, kennst du denn Henry nicht mehr? Das sind doch Henrys Aufnahmen, der war doch so ein hochbegabter Photograph. Mein Gott, war das ein Mann! Er hatte die schrecklichsten Angewohnheiten, aber er war eben ein Mann – Florence, tu nicht so, als ob du dich nicht erinnerst. Mit Henry bin ich doch auch
Weitere Kostenlose Bücher