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Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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geweihten Speise zu machen, denn es gibt Feste, die das Volk selbst dann nicht vergißt, wenn ihr Namen längst untergegangen ist: Das sind die Feste, die niemand eingesetzt hat, weil sie aus der Notwendigkeit der Natur selbst geboren worden sind.
    Jedenfalls aber war die Lust, die Jahreszeit an ihren mitgebrachten Abzeichen zu erkennen, mit der Lust am Leben verwandt, dessen Wesen in der Wiederkehr besteht, und es war plausibel, daß derjenige die Wiederkehr nicht mehr recht genießen konnte, der die Lust am Leben verloren hatte.
    Meine Tante erinnerte sich beim Anblick ihrer Grünen Sauce an die Grüne Sauce, die sie vor einem Jahr bei meiner Mutter gegessen hatte, an die, die es vor zwei Jahren gab, an die vor fünf oder sechs Jahren, und es war ihr dabei nicht anders als dem Häftling, der beim Gesang der ersten Amsel nur an die vergebliche Qual seiner letzten und zukünftigen Jahre denkt.
    Erstaunlicherweise fanden meine Mutter und Florence doch noch ein gemeinsames Thema, nachdem mein Vater lange genug gesprochen hatte, indem er das seltene Vergnügen genoß, daß eine Frau ihm beim Mittagessen zuhörte. Florence bemühte sich dabei, die minimale Menge, die auf ihrem Teller lag, in noch kleinere Häppchen zu zerteilen, die sie dann kunstvoll auf ihre umgekehrte Gabel schob, so daß jeder Bissen, den sie zum Munde führte, aussah wie eine kleine Praline, die aus verschiedenen Schichten besteht: dem Hellgelb der neuen Kartoffel, dem fast pistazienhaften Hellgrün der Grünen Sauce und dem Graubraun bestäubter Schokolade des gekochten Rindfleisches.
    »Stephan ißt sehr viel, wenn er hier ist, Gott sei Dank«, sagte meine Mutter, und allein Stephans Name alarmierte so, daß sie |152| den verhohlenen Angriff, der in der Bemerkung meiner Mutter lag, völlig überhörte. »Ach, ja?« sagte sie sehr eifrig. »Er ißt gut? Ich kann immer feststellen, wie es ihm geht, wenn ich ihn beim Essen betrachte. Wenn er viel ißt, ist das allerdings nicht immer ein gutes Zeichen. Wenn er wenig ißt oder sogar gar nichts ißt, ist es immer ein sehr schlechtes Zeichen. Wenn er nichts ißt, spricht er auch nicht, da kann ich machen, was ich will. Wenn er viel ißt, kommt es darauf an: Er spricht dann im allgemeinen mehr, während er ißt, aber am Tag nach dem Essen dafür dann oft gar nichts mehr. Das hat selbst Willy festgestellt.« Sie hielt inne, denn sie fürchtete, mit dieser Bemerkung nicht diskret gewesen zu sein. »Er sieht ihn natürlich viel seltener als ich. Wir haben eigentlich bemerkt, daß sein Zustand am stabilsten ist, wenn er normal ißt, ein normales dreigängiges Essen, ohne zum zweitenmal zu nehmen, dann spricht er auch eine normale Menge, das heißt, er antwortet auf Fragen und lacht, wenn Willy einen Witz macht.«
    Wer die Verhältnisse der Korns kannte, hätte diesen letzten Satz mit besonderer Beachtung beschenkt, denn Florence haßte Willys Witze; das wußte natürlich niemand bei uns am Tisch. »Wenn er etwa zehn Tage lang normal viel gegessen hat, dann steht eine Änderung bevor. Es ist unterschiedlich, wie sie sich ankündigt: Entweder er hört zuerst auf zu sprechen, oder er hört auf zu essen, oder er ißt die doppelte Portion. Dann wissen wir Bescheid. Wir sind sehr gut beraten, zum Glück, durch einen vorzüglichen Spezialisten, der zu Stephan wie ein väterlicher Freund ist. Er sagt immer, nur ein Freund kann helfen in schwierigen Fällen, denn nur ein Freund bringt das Verständnis auf, das der bloße Professional natürlich nicht haben kann. Das ist eine große menschliche Erfahrung für uns.« Dann schwieg sie, verwundert über sich selbst, und begann, auf ihrem längst leeren Teller die letzten spärlichen Saucenspuren zusammenzuschieben und leere Gabeln zum Mund zu führen.
    Florence hatte Glück, daß ihr diese Entgleisung an unserem und nicht einem anderen Mittagstisch unterlaufen war. Überall sonst hätte man Florence danach mitleidig angesehen und der |153| Vermutung Ausdruck verliehen, auch ein starker Mensch werde unter der übergroßen psychischen Herausforderung schließlich schwach. Bittere Leiden hätten Florence erwartet, denn ihre Sensorien waren darauf ausgerichtet, auch das mindeste Zeichen der Geringschätzung ihrer Person aufzunehmen, und Mitleid war in ihren Augen das Allerärgste und Demütigendste, was man ihr hätte antun können.
    Gerade das hatte sie bei uns aber nicht zu befürchten. Wann immer mein Vater etwas Seltsames erlebte, glaubte er, es lediglich nicht recht

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