Das Bett
verstanden zu haben. Er wußte, wie zerstreut er war, und vermutete, daß ihm schon wieder irgend etwas entgangen sein mußte. Seine Lebenserfahrung gab ihm recht in dieser Annahme, die dazu führte, daß er sich niemals über etwas wunderte, weil er fühlte, daß es wenige Dinge auf der Welt gab, die noch erstaunlich waren, wenn man ihre Hintergründe kannte. Außerdem war er schwerhörig und hatte nicht alles, was Florence vorbrachte, akustisch verstanden, und schließlich wollte er sich nicht den Spaß an einer Frau verderben lassen, die ihm so schön zugehört hatte.
Meine Mutter hatte hingegen sofort ein Auge für die Unfreiwilligkeit, mit der Florence gesprochen hatte. Wann immer sie ein Indiz dafür erhielt, daß eine Handlung unter innerem Zwang geschah, erwachte ihr Interesse an psychiatrischen Fällen, das von einem Amüsement begleitet war, wie es nur der Sammler kennt, wenn er auf ein seltenes, ihm seit langem fehlendes Stück gestoßen ist. Sie liebte die Geisteskranken, und sie verhielt sich ihnen gegenüber instinktiv richtig, wie manche Menschen sich Tieren gegenüber sofort richtig verhalten, ohne ihnen besonders aufmerksam oder zärtlich entgegenzukommen. Jede menschliche Handlung setzt sich aus tausend Abläufen zusammen, und die Tiere und die Geisteskranken berühren sich auch darin, daß sie häufig nicht verstehen, was um sie herum geschieht, daß sie aber spüren können, aus welchem Stoff eine Handlung gemacht ist, eben weil sie diese sonst verborgenen, winzigen Abläufe mit ihren geschärften Sinnen wahrnehmen können. So fühlen sie, wer ihnen feindlich gesinnt ist und wer sie nicht angreifen |154| würde, weil er aus derselben Welt wie sie kommt und sich nicht über sie wundert.
Natürlich gehörte Florence nicht in die Kategorie solcher Lebewesen, aber sie profitierte doch schon von der freundlichen Ruhe, die ihre Worte in meiner Mutter erzeugt hatten und die es ihr leicht machten, den anderen Teilnehmern des Essens wieder in die Augen zu sehen.
Ganz anders als meine Eltern hatte sich aber meine Tante verhalten. Mit ungläubigem Entsetzen hörte sie Florence zu. Sie war über ihre Worte erschüttert und begriff nicht, wie man das Thema einfach wieder fallenlassen konnte, in dem es um nichts anderes ging, als sich endlich einmal klarzumachen, in welch entsetzlicher Gefahr Stephan nun schon seit langem schwebte, der Ritter ihrer Gedanken, der glänzende, sanfte Held aus den Ländern jenseits des Ozeans. Sie fühlte ein unendliches Mitleid mit Stephan, eine Trauer darüber, daß das Schönste und Feinste, das die Erde hervorbringt, auch am bittersten zu leiden habe. Gemessen an der Furchtbarkeit der Nachricht, daß Stephan am Kornschen Familientisch einmal mehr, einmal weniger esse und rede und daß es ihm mal gut- und mal schlechtgehe, was immer das heißen mochte, erschien ihr das eigene Unglück harmlos. Stephan war unglücklich, und die erbarmungslose Zeugin seines Unglücks saß ihr gegenüber und las ihr die Leviten, ihr, die sie nun schon so viele Male neben Stephan an diesem Eßtisch gesessen und nichts geahnt und nichts gespürt hatte, obwohl sie ihn nicht genau genug betrachten konnte. Was waren ihre Empfindungen für ihn eigentlich wert, wenn sie dadurch nicht hellhöriger, hellsichtiger, sensibler auf ihn reagierte als die guten, aber eben mit sich selbst beschäftigten Menschen, die ihn umgaben? Ihre Sanftmut war auf die härteste Probe gestellt, als ihre Schwester und ihr Schwager, die sie beide liebte, mit Florence zusammen in Gelächter ausbrachen, und zwar über einen Witz meines Vaters, der ihm auf ein Stichwort von Florence eingefallen war. Trotzdem fühlte sie, daß sie die letzte war, die irgendeinem von ihnen hätte einen Vorwurf machen dürfen, denn sie war es ja, die Stephan liebte und deswegen auch nicht |155| mehr gemerkt hatte als ihre Schwester, die glücklich verheiratet war und deshalb natürlich fremde Männer gar nicht mehr so genau unter die Lupe nahm.
Der Witz meines Vaters war übrigens ein jüdischer Witz, der in New York spielte und die unvermeidlichen Sprachschwierigkeiten des Blau und des Gelb aus Polen zum Gegenstand hatte. Meine Mutter, die grundsätzlich aufhörte zuzuhören, wenn jemand einen Witz erzählte, weil ihr die Reize, die in solchen Geschichten liegen mochten, zu unverbindlich waren, lachte zwar mit, warf meinem Vater aber nachher vor, es sei eine Taktlosigkeit gewesen, Florence diesen Witz zu erzählen. Die Verteidigung meines Vaters,
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