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Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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sie auf einmal ihr Kalkül und betrachtete meine Tante mit milderen Blicken. Sie war keine Feindin mehr, und sie spürte Lust, die verstörte junge Frau zu trösten und ihr über ein Unglück hinwegzuhelfen, das sie ihr bereitet hatte. Der Wind ging durch die hohen Bäume, der Tee wurde kalt in den silbernen Kannen, und die Petits fours blieben unberührt. Florence sprach mit flüsternder Stimme. Sie erzählte meiner Tante von Stephans Leben und hielt dabei ihre Hand wie die Großmutter, die dem atemlosen Enkelkind ein Märchen erzählt. Meine Tante sah sie nicht an und duckte demütig ihren Nacken herunter, als ob sie in ihre Hinrichtung einwillige.
    Es war schon spät, als sie aufbrachen. Die übrigen Tische wurden bereits für das Abendessen gedeckt, und die ersten Gäste erschienen auf der Terrasse, um einen Aperitif zu trinken. Florence stand auf und sagte: »Also, mein Kind, Sie wissen nun: keine Reise mit Stephan, nicht jetzt und nicht später. Und kein Wiedersehen bis zu seiner Abreise nach Amerika nächste Woche. Ich verlasse mich auf Sie, weil ich fühle, daß Sie mich verstehen.«
    Meine Tante nickte langsam. Eine unerhörte Last hatte sich |162| auf ihr Herz gesenkt, die sie am Atmen hinderte. Sie stand langsam auf und hielt sich leicht vorgebeugt, wie ein Mensch, dem plötzlich übel geworden ist. Florence schob ihren Arm unter den meiner Tante und führte sie mit geradem Rücken über die Terrasse, und es war trotz des Altersunterschiedes der beiden Frauen für jeden klar, wer hier wen führte. Meine Tante zählte ihre Schritte, als hoffe sie, daß in dem Maß, in dem sie dem Gehen Wichtigkeit zuschreibe, andere Dinge auf der Welt die Bedeutung verlieren könnten.
    Im Auto sprachen sie kein Wort mehr. Aber als sich einmal wie zufällig ihre Hände berührten, sah meine Tante scheu zu Florence hinüber und versuchte zu lächeln. »Ich habe Ihr Wort?« flüsterte Florence, als sie meine Tante vor unserm Haus absetzte. »Ja, ich verspreche Ihnen alles«, sagte meine Tante. »Sie sind ein gutes Kind«, antwortete Florence und gab ihrem Chauffeur das Zeichen, abzufahren.
    Als meine Tante endlich allein in ihrem Zimmer war, mochte sie gehofft haben, daß sich dort ihre Beklemmung lösen würde. Vielleicht würde sie sogar weinen können. Aber ihre Augen blieben trocken. Und das harmlose Tapetenmuster begann noch dazu, sich zu verschieben, zu verschwimmen und das Zimmer immer enger zu machen. Als ich eine halbe Stunde später neugierig die Tür öffnete, sah ich meine Tante bewegungslos auf dem Bettrand sitzen, und sie bemerkte mich nicht einmal. Das Schlagen ihres Herzens ließ in ihr das Gefühl körperlicher Verzweiflung wachsen, während ihre Gedanken sich von dieser Erregung lösten und in ihrem Kopf kreisten, bis sie als fixe Idee haften blieben. Stephan ist krank, dachte sie, was für eine Krankheit mag das sein? Sie ist sehr schwer, ohne Zweifel, sie ist so schwer, daß ich eine Gefahr für ihn bin. Ich bin gefährlich für einen Kranken. Wenn er mich liebte, müßte er sterben, ohne Zweifel ist es so. Liebe gibt einem Kranken den Rest. Ich muß verschwinden, damit er leben kann, krank zwar, aber immerhin lebendig.
    Sie verlor sich in ziellosem Grübeln darüber, ob sie zur Verringerung von Stephans Leiden beitragen könne, wenn sie verschwände, oder ob dann vielleicht gar nichts besser würde, als |163| habe es sie nie gegeben. »Als ob es mich nicht gäbe«, sagte sie wie eine Gebetsformel vor sich hin.
    Meine Tante war mit einem Schlag wie berauscht. Sie fühlte Leichtigkeit, beinahe Heiterkeit. Vielleicht war es möglich, wirklich ganz zu verschwinden, nicht nur aus Stephans Leben, sondern auch aus dem Leben aller andern Menschen, vor allem aus der eigenen Vorstellung. Sie hoffte auf einmal, sich auflösen zu können, sich zu Schaum und Luft zu verflüchtigen und nicht mit der Beständigkeit einer Seele rechnen zu müssen, die ihr Leid mit in die Ewigkeit nähme, wenn sie sich vom Körper trennte. Sie betastete ihr Gesicht, das in ihren Händen lag, sie fühlte seine Wärme und die leichte Feuchtigkeit, die sich zwischen Gesicht und Händen gebildet hatte, und sie fühlte die Festigkeit der lebenden Substanz, die sich da einfach folgenlos verflüchtigen sollte. Dieses Erlebnis hatte einen weiteren Gedanken zur Folge. Wenn das Fleisch so schwer, wenn die Seele so vollgesogen mit Unglück war, dann wäre ihr Verlöschen vielleicht gar nicht wünschenswert. Das Gefühl für ihren Wert begann wieder

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