Das Bett
die Angewohnheit annehmen, regelmäßig nach Paris zu fahren, ohne dort im strengeren Sinne etwas zu suchen zu haben, tat sich Ines auf ihre Kennerschaft der an der Seine obwaltenden Verhältnisse etwas zugute. Viele Männer, von denen sie Henri Wafelaerts nur fragmentarisch berichtete, hatten sich in dieser Hinsicht um sie verdient gemacht, und sie war so glücklich, daß nicht eine einzige Niete unter diesen Männern war, keiner, der ihr nicht ein verstecktes Restaurant, einen Trödler, der eine Schatzhöhle hütete, oder einen Hutmacher hinterlassen hätte, an die sie sich noch erinnerte, wenn das Gesicht des findigen Ratgebers schon längst zur Unkenntlichkeit verblaßt war.
Aimée war seit langem nur noch an Pot au feu gewöhnt, das sie in dem tristen Bistro, das neben ihrem Hotel lag, bekam. Dieser Eintopf enthielt hauptsächlich Kartoffeln; die paar Karotten, der Farbe halber dazugegeben, hatten einen fad süßlichen Geschmack, den sie verabscheut hätte, wenn nicht das einzige, worauf es ihr beim Essen ankam, die Menge gewesen wäre, die ihr den Magen füllte, damit sie an etwas anderes denken konnte. Sie war keineswegs stumpf für feinere Genüsse, ihre Urteilsfähigkeit setzte nicht aus, wenn es um ein zivilisiertes Essen ging, aber es kam nicht infrage, auf einem Gebiet finanzielle Opfer zu bringen, das lediglich dem eigenen Wohlbefinden diente und nicht dazu beitrug, ihr Glanz zu verleihen: Nach dem Verzehr einer warmen Gänseleber sah man nicht reicher, nicht mächtiger und nicht schöner aus als vorher – es hätte halt gut geschmeckt, und darauf konnte sie ohne Überwindung verzichten. Deshalb war auch die Sorgfalt, mit der Ines das Restaurant nun auswählte, bei Aimée verlorene Liebesmüh. Aimée wollte satt werden. Wenn Ines ihr sonst noch etwas bieten wollte, dann sollte sie ihr helfen, in Paris Fuß zu fassen.
Aimée war eine kleine Soldatin, die allem, was die Legitimität der Stärke besaß, aus tiefster Überzeugung Respekt erwies. Alles, was Bestand hatte, alles, was sich in der Welt durchsetzen |185| konnte, erkannte sie vorbehaltlos an, aber nicht aus Schwäche oder Unterwerfung, sondern um die Autonomie ihrer eigenen Person in dieser Bewunderung fremder Kraft zu begründen und zu behaupten. Es wäre für sie das Eingeständnis der Kapitulation gewesen, wenn sie die Zustände der Welt und das Unrecht, das ihrer Familie widerfahren war, beklagt hätte. Die Zustände, die sie vorfand, waren das Maß aller Dinge. Und wenn sie schlimm waren, dann lag es an ihr, aus eigener Kraft die Harmonie wiederherzustellen. So glich denn ihre Haltung oftmals täuschend dem Opportunismus und hatte mit ihm tatsächlich dessen Härte und Rücksichtslosigkeit gemeinsam, nur berechnend und feige wollte Aimée niemals sein.
Arm und verbindungslos wie sie war, hätte Aimée die seltene Chance einer Einladung also lieber dazu benutzt, in einem weltberühmten Restaurant den Brotkorb leer zu essen, dafür dort aber unschätzbare Erfahrungen zu sammeln, als in jenem verborgenen »Martial«, in das Ines sie führte, ein stundenlanges Menü einzunehmen, das sie am Abend vergessen haben würde. Daß Ines mit ihr zu »Martial« ging, nahm sie mit derselben kalten Verständnislosigkeit auf, wie sie den Vorschlag eines Ortskundigen, ihr in Rom zuerst die eingesunkene, bezaubernde Basilika S. Giorgio in Velabro zu zeigen, dafür den Petersdom aber links liegenzulassen, quittiert hätte. Für jene Welt, mit der man fertig werden mußte, zählten die drei Sterne im ›Baedeker‹, denn angesichts des Glanzes dieser drei Sterne wurde die Tatsache, daß S. Giorgio in Velabro vielleicht rührender, edler und authentischer als der Petersdom war, zu weltfremder Sentimentalität.
Der Petersdom unter den Pariser Restaurants, den Ines ihr hätte aufschließen müssen, um ihr eine Freude zu machen, war »Fouquet’s« auf den Champs-Élysées. Unter all den berühmten alten Instituten, die ihr Vater ihr genannt hatte und die sie sich unauffällig von außen betrachtete – ängstlich vermied sie den Eindruck des staunenden Kinderauges, das andachtsvoll durch die Fensterscheiben der schönen Welt beim Tafeln zusieht –, entsprach »Fouquet’s« am meisten dem, was sie sich als Umgebung für sich wünschte. Sie sah selber, daß es Restaurants gab, die |186| kostbarer ausgestattet waren und die vermutlich eine bessere Küche als »Fouquet’s« hatten, aber das konnte für sie dem Platz ihrer Wahl den Zauber nicht
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