Das Bienenmaedchen
fragte sie weiter. Hatte sie es sich nur eingebildet, dass ein Schatten über sein Gesicht zog?
»In der Nähe von Hereford, nehme ich an. Kennst du diese Ecke?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Es ist eine Landschaft mit satten grünen Hügeln, wirklich idyllisch. Die Eltern meiner Mutter waren Bauern. Als ich klein war, hab ich viel Zeit bei ihnen verbracht. Mein Vater ist vor ein paar Jahren aus dem Armeedienst ausgeschieden, und dann haben sich meine Eltern dort in der Nähe ein Haus gekauft.«
»Nirgendwo ein Platz, der dir gehört?«
»Nein, ich weiß noch nicht, wo ich mich niederlassen soll. Aber irgendwann werde ich mich wohl mal entscheiden müssen. Was ist mit dir?«
»Oh, ich habe vor ein paar Jahren eine Wohnung im Norden von London gekauft. Am Rand von Camden. Ich hab mich in die Gegend verliebt, weißt du: der Kanal, die Boote, die Märkte.«
Er lächelte kurz. Dann verschwand das Lächeln, und seine Augen blickten wie in weite Ferne. Verwirrt stand Lucy auf und stellte den leeren Becher auf den Tisch. Sie hatte das Gefühl, dass sie jetzt gehen sollte. Aber dann hob Anthony den Kopf und schien plötzlich wieder er selbst zu sein – warmherzig und freundlich.
»Hast du heute noch was vor?«, fragte er. »Ich hab nicht viel im Kühlschrank, sonst hätte ich dir angeboten, etwas zu kochen. Aber vielleicht könnten wir irgendwo essen gehen. Falls du vom ›Mermaid‹ genug hast – da gibt es einen Pub in der Nähe der Landzunge, wo man auch lecker essen kann: Fish and Chips oder Steak-and-Kidney-Pie . Was sagst du dazu?«
»Klingt verlockend«, erwiderte Lucy. Sie würde gern mit ihm dorthin gehen, aber sie fragte sich, ob sie das tun sollte. Ihre Leben unterschieden sich so sehr voneinander. Es gab keinen Grund für ein Wiedersehen. Doch sie vertraute ihm … Sie hatte das Gefühl, ihn schon lange zu kennen. Und sie spürte, dass er sie so akzeptierte, wie sie war, obwohl er sie nicht näher kannte. Wie konnte es so etwas zwischen zwei Menschen geben? Dass man etwas im anderen wiedererkannte? Aber was wäre, wenn sie sich täuschte?
Er wartete auf ihre Antwort, und sie wusste, was sie sagen wollte. »Ja, das würde ich gern.«
***
Der Pub war ein bisschen auf alt gemacht – die Wände waren mit Messingteleskopen und Fischernetzen dekoriert. Am frühen Abend war hier noch nicht viel los. Anthony saß an der Bar, unterhielt sich mit dem Wirt und bemerkte nicht, wie sie hereinkam. Er trug eine weiße Jacke, ein cremefarbenes Hemd und dunkle Jeans, und Lucy wurde ein weiteres Mal bewusst, wie attraktiv er war. Seine kurzen Haare passten zu seinem markanten gebräunten Gesicht. Als er sie sah, begrüßte er sie mit einem Lächeln, bei dem seine Augen aufleuchteten.
»Hallo«, sagte er. »Was möchtest du trinken?« Er zog einen Hocker für sie heran.
Während der Wirt ihr Lagerbier holte, schob Anthony ihr die Speisekarte hinüber. Sie entschieden sich beide für das Gleiche: Fish and Chips . Lucy steckte eine Zehn-Pfund-Note in seine Brusttasche, obwohl er sie unbedingt einladen wollte. Sie nahmen ihre Getränke und setzten sich im rechten Winkel zueinander an einen kleinen Tisch am Fenster, wo sie beide einen Blick auf das Meer hatten. Lucy hatte ihre Kamera mitgenommen und stellte sie nun unter dem Tisch auf den Boden.
»Ich dachte, ich könnte nachher ein paar Fotos machen«, erklärte sie. »Wenn es anfängt, dunkel zu werden.«
Die Sonne stand niedrig, und der Regen, den Beatrice vorausgesehen hatte, war nicht gekommen. Fetzen schwarzer Wolken waren am Himmel verstreut, doch es sah nicht so aus, als würden sie sich zusammenballen. Das könnte ein paar ausdrucksstarke Bilder ergeben.
»Erzähl mir mehr von deiner Arbeit«, sagte er. »Was fotografierst du gern?«
Als Antwort griff sie nach der Kamera und zeigte ihm einige der Aufnahmen, die sie in den vergangenen Tagen gemacht hatte.
»Sie sind gut«, sagte er.
»Ich fotografiere auch Stadtansichten«, sagte sie und erzählte ihm von ihrer Ausstellung über Little Venice. »Und alles, was mit Wasser zu tun hat. Ich mag seine Lebendigkeit. Was es mit dem Licht macht.«
»Ich wünschte, ich hätte dein Talent«, sagte er. »Ein paar Plätze, die ich in Afghanistan gesehen habe … Ich hätte sie gern fotografiert. Und die Leute – ihre Gesichter bleiben im Kopf haften. Weiß der Himmel, wie sie das alles ertragen!« Er gab ihr die Kamera zurück. »Hast du eine Website? Ich habe hier keinen Internetzugang, aber wenn ich zurück bin,
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