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Das Bienenmaedchen

Das Bienenmaedchen

Titel: Das Bienenmaedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Hore
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einer ihrer Nichten in Étretat. Das Schreiben war auf irgendwelchen geheimen Wegen nach England gelangt und dann von London aus anonym abgesandt worden war. Darin stand die furchtbare Nachricht, dass deutsche Soldaten Pappi getötet hätten, offenbar aufgrund eines Missverständnisses.
    Delphine schickte die Nachricht an Beatrice weiter, zusammen mit einem Brief, in dem sie ihre ganze Trauer zu Papier gebracht hatte.
    In dieser Woche musste Beatrice einen der französischen Offiziere fahren. Sie beschloss, ihm davon zu erzählen und ihn zu fragen, ob das wahr sein könnte. Der Offizier war ein älterer Mann mit einem so traurigen Gesicht, als würde die ganze Bürde der Demütigung seiner Nation auf seinen Schultern lasten. Es war die Art, wie er seine Hände hielt, die Beatrice dazu brachte, ihm zu vertrauen. Er hatte breite, bäuerliche Hände, die er auf seinem Gehstock übereinanderlegte wie ein Schafhirte auf seinem Stab.
    Während der Fahrt hatten sie sich in seiner Muttersprache unterhalten. Er stammte aus den Ardennen, erfuhr sie. Das Dorf, in dem seine Familie lebte, war bei der Invasion als eines der ersten von den deutschen Streitkräften überrascht worden, und ihm selbst war gerade noch die Flucht gelungen.
    Als sie aufgrund des Verkehrs anhalten musste, tastete Beatrice in ihrer Tasche nach dem kleinen Papierstreifen und reichte ihn ihm.
    »Entschuldigen Sie, dürfte ich Sie fragen, was Sie davon halten?«, fragte sie und erzählte ihm, wie die Nachricht sie erreicht hatte.
    Der Offizier kramte kurz nach seiner Brille und setzte sie auf. Während er die winzigen Buchstaben entzifferte, runzelte er die Stirn. »Von Ihrer Cousine, sagen Sie?«
    »Ja«, antwortete Beatrice.
    »Also, ich bin sehr betrübt über diese Nachricht. Hier steht, dass man Ihren Großvater getötet hat.«
    »Weil er Lebensmittel gehortet und vor den Behörden versteckt haben soll. Meine Cousine schreibt aber, das sei ein Missverständnis gewesen.«
    Beatrice’ Augen begegneten im Rückspiegel denen des Offiziers, die an einen Bluthund erinnerten. Er sah trauriger aus denn je, als er ihr den Brief zurückgab. »Es tut mir wirklich leid, Mademoiselle«, sagte er. »Aber diese Dinge sind der Grund, weshalb ich hier bin. Dieser Krieg betrifft uns alle. Die Nazi-Justiz kennt keine Gnade, es gibt keinen Raum für Zweifel. Deshalb sind auch die Widerstandskämpfer in solch großer Gefahr.«
    »Aber warum hatten sie kein Mitleid? Er war ein sehr alter Mann. Alt und krank.«
    Der Offizier lehnte sich zurück und stieß einen Fluch aus. »Das ist es ja, weshalb wir Widerstand leisten«, sagte er grimmig. »Für all die Großväter. Bitte übermitteln Sie Ihrer Mutter mein Beileid. Sagen Sie ihr, sie solle Gott danken, dass sie eine Tochter hat, die hier so tapfer ihren Beitrag leistet.«
    »Ein kleiner, armseliger Beitrag«, murmelte Beatrice wütend.
    »Nehmen Sie all die kleinen Beiträge zusammen …«, sagte er und machte mit den Händen eine weit ausholende Geste, »… und wir werden diesen Krieg gewinnen. Denken Sie immer daran. Geben Sie Ihr Bestes, und glauben Sie daran!«
    Erinnern … Beatrice hatte sich erinnert. Sie hatte diesen kleinen Brief aufbewahrt und besaß ihn jetzt, im Alter von achtundachtzig Jahren, immer noch. Jahrelang waren Erinnerungen alles gewesen, was sie hatte – und sie wünschte, sie hätte manches vergessen können.
    Ihr Blick fiel auf den kleinen Stapel Wäsche, die Lucy von der Leine abgenommen und zusammengefaltet hatte. Ein reizendes Mädchen, diese Lucy. Beatrice spürte, dass sie sie mehr und mehr lieb gewann. Zudem war sie überrascht, wie klug sie war. Sie hatte angenommen, sie würde Lucy über die Dinge aufklären, indem sie ihr ihre Geschichte erzählte. Stattdessen hatte Lucy einiges gesagt, was sie selbst zum Nachdenken gebracht hatte. Das, was geschehen war, einmal aus Angies Blickwinkel zu betrachten, zum Beispiel. Darüber hatte Beatrice sich eigentlich noch nie Gedanken gemacht, sie hatte es nicht gewollt. Sie war immer davon ausgegangen, dass ihre eigene Version die einzig richtige war.
    Sie stand auf, nahm den Wäschestapel und trug ihn langsam die Treppe hoch.
    Lucy ging die Stufen zum Hafen hinunter, setzte sich in einem ruhigen Café ans Fenster und bestellte eine heiße Schokolade. Sie streute ein paar Marshmallow-Stückchen darauf und sah zu, wie sie im Schaum versanken. Sie dachte über all das nach, was Beatrice ihr vorhin erzählt hatte. Bislang war ihr nicht bewusst gewesen,

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