Das Bild
Norman leben konnte, aber
jetzt war es zu spät, sich darüber Gedanken zu machen. Sie
machte den Mund auf und fing an. Ihre Stimme klang einigermaßen fest, was eine beruhigende Wirkung auf sie hatte.
Sie fing damit an, daß sie ihm von einem fünfzehnjährigen
Mädchen erzählte, das sich mit einem rosafarbenen Samtband im Haar unglaublich hübsch vorgekommen war, und
wie dieses Mädchen eines Abends zu einem Basketballspiel
der Schulmannschaft ging, weil die Zusammenkunft der
Future Homemakers in allerletzter Sekunde abgesagt worden war und sie zwei Stunden Zeit totschlagen mußte, bis ihr
Vater kam, um sie abzuholen. Vielleicht, gab sie zu, wollte
das Mädchen auch nur, daß die Leute sehen sollten, wie
hübsch sie mit diesem Haarband aussah, aber in der Schulbibliothek war kein Mensch. Ein Junge mit einer Lederjacke
hatte sich auf der Tribüne zu ihr gesetzt, ein großer Junge mit
breiten Schultern, ein Oberschüler, der da draußen gewesen
und mit den anderen auf dem Spielfeld herumgerannt wäre,
wenn sie ihn nicht im Dezember wegen einer Prügelei aus
der Mannschaft geworfen hätten. Sie fuhr fort und hörte
selbst, wie ihr Mund Dinge von sich gab, von denen sie
geschworen hätte, daß sie sie unausgesprochen mit ins Grab
nehmen würde. Nicht von dem Tennisschläger, das würde sie
mit ins Grab nehmen, aber wie Norman sie in der Hochzeitsnacht gebissen hatte und sie sich einzureden versuchte, daß
er es aus lauter Liebe tat, von der Fehlgeburt, die Norman
verschuldet hatte, und von dem entscheidenden Unterschied zwischen Schlägen ins Gesicht und Schlägen auf den
Rücken. »Darum muß ich andauernd pinkeln«, sagte sie und
sah nervös lächelnd auf ihre Hände hinab, »aber es wird
langsam besser.« Sie erzählte ihm von den ersten Jahren ihrer
Ehe, als er ihr die Zehen oder Fingerspitzen mit dem Feuerzeug verbrannte; erfreulicherweise hatte diese spezielle
Form der Folter aufgehört, als Norman das Rauchen aufgegeben hatte. Sie erzählte ihm von dem Abend, als Norman
von der Arbeit nach Hause gekommen war, sich die ganzen
Nachrichten über wortlos vor den Fernseher setzte, sein
Abendessen, das er nicht anrührte, auf dem Schoß; wie er
den Teller wegstellte, als Dan Rather fertig war, und wie er
sie mit der Spitze eines Bleistifts piekste, der auf dem Tischchen am einen Ende der Couch lag. Er piekste so fest, daß es
weh tat, und kleine schwarze Pünktchen wie Leberflecke auf
ihrer Haut zurückblieben, aber nicht so fest, daß Blut geflossen wäre. Sie erzählte Bill, daß Norman ihr manchmal auch
schlimmer weh getan, aber nie wieder mehr Angst gemacht
hatte. Am schlimmsten fand sie sein Schweigen. Wenn sie
mit ihm reden und herausfinden wollte, was los war, antwortete er nicht. Er folgte ihr nur, als sie zurückwich (sie
hatte nicht weglaufen wollen; das wäre wahrscheinlich
gewesen, als hätte sie ein brennendes Streichholz in ein Pulverfaß geworfen), beantwortete ihre Fragen nicht und achtete nicht auf ihre ausgestreckten Hände mit den gespreizten
Fingern. Er piekste sie weiter mit dem Bleistift in die Arme
und die Schultern und den Brustkorb - sie hatte ein Oberteil
mit einem etwas tieferen Ausschnitt getragen - und machte
jedesmal ein Geräusch wie bei einer kleinen Explosion, wenn
sich die stumpfe Bleistiftspitze in ihre Haut bohrte: Bumm!
Bumm! Bumm! Schließlich hockte sie mit angezogenen Knien
und über dem Hinterkopf verschränkten Armen in einer
Ecke, und er kniete mit ernstem, fast wißbegierigem Gesicht
über ihr, piekste sie mit dem Bleistift und gab dieses
Geräusch von sich. Sie erzählte Bill, sie sei überzeugt gewesen, daß er sie umbringen würde, daß sie als einzige Frau in
die Weltgeschichte eingehen würde, die je mit einem Bleistift
Nr. 2 der Firma Mongol erstochen worden war … und sie
erinnerte sich, wie sie sich ständig ermahnt hatte, nicht zu
schreien, weil die Nachbarn sie hören würden und sie nicht
so gefunden werden wollte. Jedenfalls nicht, wenn sie noch
am Leben war. Die Schande wäre zu groß gewesen. Als sie
kurz vor dem Punkt war, wo sie gegen ihren Willen
geschrien hätte, war Norman ins Bad gegangen und hatte
die Tür abgeschlossen. Er blieb lange Zeit im Bad, und da
hatte sie sich überlegt, ob sie weglaufen sollte - einfach zur
Tür hinaus, ins Nirgendwo -, aber es war Nacht, und er war
zu Hause. Wenn er herausgekommen wäre und festgestellt
hätte, daß sie nicht mehr da war, sagte sie, hätte er sie gejagt
und gefunden und getötet, das wußte sie. »Er hätte
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