Das Bild
hatte.
Aber jetzt war sie wieder wach, hellwach, und sah sich mit
Augen um, die gerade erst anfingen, zu sehen.
»Ich bin froh, daß du gekommen bist«, sagte sie.
IO
Sie gingen langsam den Lake Drive hinunter in Richtung
Osten, einem kräftigen, warmen Wind entgegen. Als er den
Arm um sie legte, schenkte sie ihm ein zaghaftes Lächeln. Sie
waren drei Meilen westlich des Sees, aber Rosie war zumute,
als könnte sie den ganzen Weg bis dorthin zu Fuß gehen,
wenn er nur weiter seinen Arm um sie gelegt ließ. Den
ganzen Weg bis zum See, und vielleicht auch darüber hinweg, indem sie ruhig von einem Wellenkamm auf den nächsten stieg.
»Warum lächelst du?« fragte er sie.
»Ach, nichts weiter«, sagte sie. »Ich schätze, mir war einfach nach Lächeln zumute.«
»Bist du wirklich froh, daß ich gekommen bin?«
»Ja. Ich konnte letzte Nacht kaum schlafen. Ich dachte mir,
daß ich einen Fehler gemacht hätte. Ich schätze, ich habe einen Fehler gemacht, aber … Bill?«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Ich habe es getan, weil ich mehr für dich empfinde, als ich
nach allem, was ich durchgemacht habe, je wieder für möglich gehalten hätte, und es ist alles so schnell passiert … ich
muß verrückt sein, daß ich dir das erzähle.«
Er drückte sie kurz noch fester an sich. »Du bist nicht verrückt.«
»Ich habe dich angerufen und dir gesagt, du sollst dich von
mir fernhalten, weil etwas passiert ist - passiert sein könnte -, und ich wollte nicht, daß dir etwas zustößt. Nicht um alles in
der Welt. Das will ich immer noch nicht.«
»Es ist Norman, richtig? Wie in Bates. Er ist doch gekommen, um nach dir zu suchen.«
»Mein Herz sagt, daß es so ist«, sagte Rosie und wählte ihre
Worte sehr sorgfältig, »und meine Nerven sagen, daß es so ist,
aber ich bin nicht sicher, ob ich meinem Herzen trauen kann
- es lebt schon so lange in Angst - und meine Nerven …
meine Nerven sind einfach überstrapaziert.«
Sie sah auf die Uhr, dann zu der Würstchenbude an der
Ecke. In der Nähe standen Bänke auf einem Grünstreifen, wo
Sekretärinnen Mittagspause machten.
»Würdest du eine Lady zu einem Riesen-Hot-Dog mit
Sauerkraut einladen?« fragte sie. Plötzlich schien ihr ein Rülpser am Nachmittag das Unwichtigste auf der Welt zu sein.
»So einen hab ich nicht mehr gegessen, seit ich ein Kind war.«
»Ich denke, das läßt sich machen.«
»Wir können uns auf eine Bank setzen, dann werde ich dir
von Norman, wie in Bates, erzählen. Und dann kannst du
selbst entscheiden, ob du dich weiter mit mir treffen willst
oder nicht. Wenn du der Meinung bist, daß du es nicht willst,
hätte ich vollstes Verständnis -«
»Rosie, das werde ich nicht -«
»Sag das nicht. Erst, wenn ich dir von ihm erzählt habe.
Und du solltest lieber essen, bevor ich anfange, sonst könnte
dir der Appetit vergehen.«
11
Fünf Minuten später kam er zu der Bank, wo sie saß. Er
balancierte vorsichtig ein Tablett, auf dem er zwei RiesenHot-Dogs und zwei Pappbecher Limonade trug. Sie nahm
eine Wurst und einen Becher, stellte das Getränk neben sich
auf die Bank und sah ihn ernst an. »Du mußt aufhören, mich
zum Essen einzuladen. Ich komme mir schon vor wie das
verwahrloste Kind auf den UNICEF-Plakaten.«
»Ich lade dich gern zum Essen ein«, sagte er. »Du bist zu
dünn, Rosie.«
Norman ist da anderer Meinung, dachte sie, aber unter den
gegebenen Umständen war das nicht die richtige Antwort.
Sie war nicht sicher, was die richtige Antwort gewesen wäre,
und mußte an die pseudogeistreichen Sätze denken, die
Figuren in Fernsehserien wie Melrose Place immer von sich
gaben. Jetzt wäre sie für ein wenig von diesem munteren
Geplapper dankbar gewesen. Ich Dummerchen hab vergessen,
meinen Drehbuchautor mitzubringen, dachte sie. Statt zu reden,
betrachtete sie ihren Hot Dog mit Sauerkraut und stocherte
in dem Brötchen herum, während sie die Stirn runzelte und
erwartungsvoll den Mund spitzte, als wäre das ein Ritual vor
der Nahrungsaufnahme, das seit Generationen in ihrer
Familie von der Mutter an die Tochter weitergegeben wurde.
»Also, erzähl mir von Norman, Rosie.«
»Ja, gut. Laß mich nur überlegen, wo ich anfangen soll.«
Sie biß von ihrem Würstchen ab und genoß das Prickeln
des Sauerkrauts auf der Zunge, dann trank sie einen Schluck
Limonade. Sie überlegte sich, daß Bill vielleicht nichts mehr
mit ihr zu tun haben wollte, wenn sie fertig war, daß er nur
Abscheu und Ekel für eine Frau empfinden konnte, die so
viele Jahre mit einer Kreatur wie
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