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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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»Und heute nachmittag werde ich es besser machen. Bei Gott.«
Stimmte das? Das Schlimme war, sie wußte es einfach
nicht. Sie hatte den ganzen Morgen versucht, sich in Kitt All
My Tomorrows hineinzuversetzen wie in Der Teufelsrochen, aber mit mäßigem Erfolg. Sie glitt langsam in die Welt, wo
Alma St. George von ihrem psychopathischen Bewunderer
Peterson verfolgt wurde, und dann riß eine der Stimmen von
gestern abend sie wieder heraus: die von Anna, die ihr sagte,
daß der Mann, der sie zu Daughters and Sisters geschickt
hatte, ermordet worden war, oder die von Bill, panisch und
bestürzt, als er sie fragte, was los sei, oder ihre eigene, die
schlimmste von allen, die ihm sagte, daß er nicht mehr in ihre
Nähe kommen sollte. Einfach nicht mehr in ihre Nähe.
Curt klopfte ihr auf die Schulter. »Sie haben einen schlechten Tag«, sagte er. »So was kommt vor. Das erleben wir oft
hier in der Audiokammer des Schreckens, oder nicht, Rho?«
»So ist es«, sagte Rhoda, aber ihr Blick wich nicht von
Rosies Gesicht, und Rosie konnte sich ziemlich gut vorstellen, was Rhoda sah. Sie hatte gestern nacht nur zwei oder
drei Stunden geschlafen und hatte keinen Superkosmetikkram, mit dem man das übertünchen konnte.
Und selbst wenn, wüßte ich nicht, wie man damit umgeht, dachte sie.
Als sie noch die High School besuchte, hatte sie eine
Grundausstattung an Make-up gehabt (witzigerweise in
dem Lebensabschnitt, wo man derlei Sachen am wenigsten
brauchte), aber seit sie Norman geheiratet hatte, war sie mit
etwas Puder und zwei oder drei Lippenstiften in den natürlichsten Farben ausgekommen. Wenn ich eine Nutte ansehen
wollte, hätte ich eine geheiratet, hatte Norman einmal zu ihr
gesagt.
Sie glaubte, daß Rhoda ihre Augen am gründlichsten studierte: die roten Lider, das blutunterlaufene Weiße, die dunklen Ringe darunter. Als sie das Licht ausgeschaltet hatte,
mußte sie über eine Stunde hemmungslos schluchzen, aber
sie hatte sich nicht in den Schlaf geweint - das wäre ein Segen
gewesen. Die Tränen waren getrocknet, und danach hatte sie
einfach in der Dunkelheit gelegen und versucht, nicht nachzudenken, aber trotzdem nachgedacht. Als Mitternacht kam
und verstrich, war ihr ein wahrhaft schrecklicher Gedanke
gekommen: daß es falsch gewesen war, Bill anzurufen, daß
es falsch gewesen war, zu einem Zeitpunkt auf seinen Trost
zu verzichten - und möglicherweise seinen Schutz -, wo sie
ihn am dringendsten brauchte.
Schutz? dachte sie. O Mann, das ist ein guter Witz. Ich weiß,
du magst ihn, Süße, und daran ist nichts auszusetzen, aber seien
wir ehrlich: Norman würde ihn zum Frühstück verspeisen.
Aber sie konnte nicht wissen, ob Norman in der Stadt war
- das hatte Anna immer und immer wieder betont. Peter Slowik hatte einige ehrenamtliche Tätigkeiten ausgeübt, die
nicht alle beliebt waren. Etwas anderes konnte dafür verantwortlich sein, daß er in Schwierigkeiten geraten … daß er
umgebracht worden war.
Aber Rosie wußte es. Wußte es in ihrem Herzen. Es war
Norman.
Doch die Stimme hatte immerzu geflüstert, während die
Stunden verstrichen. Wußte sie es wirklich in ihrem Herzen?
Oder verschanzte sich der Teil von ihr, der nicht praktisch
und vernünftig war, sondern nur ängstlich und verwirrt, einfach hinter diesem Gedanken? Hatte er möglicherweise
Annas Anruf als Gelegenheit genutzt, um ihre Freundschaft
mit Bill Steiner abzuwürgen, ehe sie sich weiterentwickeln
konnte?
Sie wußte es nicht, aber sie wußte eines, bei dem Gedanken, daß sie ihn vielleicht nie mehr wiedersah, fühlte sie sich
elend … und verzagt, als hätte sie einen lebenswichtigen Teil
ihres Antriebs verloren. Es war natürlich unmöglich, daß ein
Mensch so schnell von einem anderen abhängig wurde, aber
als ein Uhr kam und ging, dann zwei (und drei), erschien ihr
der Gedanke immer weniger lächerlich. Wenn eine derart
rasche Abhängigkeit unmöglich war, warum war sie dann so
erschrocken und niedergeschlagen bei der Vorstellung, sie
würde ihn nie wiedersehen?
Als sie schließlich doch eingeschlafen war, hatte sie wieder
geträumt, sie würde mit ihm Motorrad fahren; sie würde die ses dunkelrote Gewand tragen und ihn mit den bloßen Oberschenkeln umklammern. Als der Wecker sie aus dem Schlaf
gerissen hatte - viel zu früh nach dem Einschlafen-, hatte sie
keuchend geatmet, und ihr war am ganzen Körper heiß
gewesen, als hätte sie Fieber.
»Rosie, alles klar?« fragte Rhoda.
»Ja«, sagte sie. »Nur …« Sie sah Curtis an, dann wieder
Rhoda.

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