Das Bild
angenehm heiser. Dennoch
bekam Rosie am ganzen Rücken eine Gänsehaut. Etwas
stimmte nicht mit dieser Stimme, und Rosie hatte eine
Ahnung, als könnte nur eine andere Frau das hören - wenn
ein Mann so eine Stimme hörte, dachte er sofort an Sex und
vergaß alles andere. Trotzdem stimmte etwas nicht damit.
Ganz und gar nicht.
»Rosie«, wiederholte die Stimme, und plötzlich wußte sie
es: Es war, als wäre die Stimme darum bemüht, wie die eines
Menschen zu klingen; bemüht, sich zu erinnern, wie man sich
wie ein Mensch anhörte.
»Sieh sie nicht direkt an«, sagte die Frau in dem roten
Gewand. Sie klang besorgt. »Der Anblick ist nichts für deinesgleichen.«
»Nein, das will ich auch nicht«, sagte Rosie. »Ich will nach
Hause.«
»Das kann ich dir nicht verdenken, aber dafür ist es zu
spät«, sagte die Frau und streichelte den Hals des Pferdes.
Ihre dunklen Augen blickten ernst, ihr Mund war verkniffen.
»Und faß sie auch nicht an. Sie will dir nicht weh tun, aber sie
hat sich nicht mehr so gut unter Kontrolle.« Sie klopfte sich
mit einem Finger an die Schläfe.
Rosie drehte sich widerstrebend zu der Frau in dem Chiton um und machte einen Schritt nach vorne. Die Beschaffenheit des Rückens der Frau, ihrer bloßen Schulter und des
Halses faszinierte sie. Die Haut war seidiger als geflammte
Seide. Aber weiter oben am Hals …
Rosie wußte nicht, worum es sich bei den grauen Schatten
handeln konnte, die unmittelbar unter dem Haaransatz lauerten, und sie glaubte, sie wollte es auch nicht wissen. Bißwunden, waren ihr erster panischer Gedanke, aber es waren keine
Bißwunden. Rosie wußte, wie Bißwunden aussahen. War es
Lepra? Etwas Schlimmeres? Etwas Ansteckendes?
»Rosie«, sagte die betörende, heisere Stimme zum drittenmal, und etwas an ihr bewirkte, daß Rosie am liebsten
geschrien hätte, so wie sie manchmal schreien wollte, wenn
sie Norman lächeln gesehen hatte. Sie erinnerte sich, wie sich
die Frau in Rot an die Schläfe gedeutet hatte.
Die Frau ist verrückt. Was sonst noch mit ihr nicht stimmt - die
Flecken auf ihrer Haut - ist zweitrangig. Sie ist verrückt.
Blitze zuckten. Donner grollte. Und mit dem nächsten
Windstoß war aus der Richtung der Tempelruine am Fuß des
Hügels das ferne Weinen eines Babys zu hören.
»Wer sind Sie?« fragte Rosie. »Wer sind Sie, und warum
bin ich hier?«
Statt einer Antwort streckte die Frau den rechten Arm aus,
drehte ihn herum und zeigte eine alte, ringförmige Narbe an
der Unterseite. »Der hier hat ziemlich geblutet und sich entzündet«, sagte sie mit ihrer betörenden, heiseren Stimme.
Rosie streckte ebenfalls den Arm aus. Es war nicht der
rechte, sondern der linke, aber die Narbe war genau die selbe. Da wurde sie von einer kurzen, aber schrecklichen Erleuchtung überkommen: Wenn sie den kurzen dunkelroten
Chiton anziehen würde, dann würde sie die rechte Schulter
statt der linken unbedeckt lassen, und wenn sie einen goldenen Armreif tragen würde, dann über dem linken Ellbogen,
statt über dem rechten.
Die Frau auf dem Hügel war ihr Spiegelbild.
Die Frau auf dem Hügel war
»Sie sind ich, richtig?« fragte Rosie. Und als die Frau mit
dem geflochtenen Haar Anstalten traf, sich umzudrehen,
fügte sie mit einer schrillen, bebenden Stimme hinzu: »Drehen Sie sich nicht um, ich will es nicht sehen!«
»Nicht so voreilig«, sagte Rose Madder mit einer seltsamen, geduldigen Stimme. »Du bist richtig Rosie, du bist
Rosie richtig. Was du auch vergessen magst, vergiß das nie mals. Und vergiß eines ganz besonders nicht: Ich vergelte. Was du für mich tust, das tue ich für dich. Darum wurden
wir zusammengebracht. Das ist unser Gleichgewicht. Das ist
unser Ka.«
Ein Blitz zuckte über den Himmel; Donner hallte dröhnend; der Wind pfiff zischelnd durch den Olivenbaum. Die
blonden Härchen, die sich aus dem Zopf von Rose Madder
befreit hatten, flatterten ungestüm. Selbst im düsteren Licht
sahen sie wie gesponnenes Gold aus.
»Geh jetzt hinunter«, sagte Rose Madder. »Geh hinunter
und bring mir mein Baby.«
5
Der Schrei des Kindes wehte zu ihnen herauf wie etwas von
einem anderen Kontinent, und Rosie sah von erneuter Angst
erfüllt zu der Ruine des Tempels hinunter, dessen Perspektive immer noch seltsam und unangenehm schiefwinklig zu
sein schien. Außerdem pochten ihre Brüste wieder, wie häufig in den Monaten nach ihrer Fehlgeburt.
Rosie machte den Mund auf, ohne recht zu wissen, was für
Worte herauskommen würden, auf jeden Fall eine Art
Widerspruch, doch
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