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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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eine Hand ergriff ihre Schulter, bevor sie
etwas sagen konnte. Sie drehte sich um. Es war die Frau in
Rot. Diese schüttelte zur Vorsicht mahnend den Kopf,
klopfte sich wieder an die Schläfe und deutete zu der Tempelruine hinab.
    Rosies rechtes Handgelenk wurde von einer anderen Hand
gepackt, die so kalt wie ein Grabstein war. Sie drehte sich um
und stellte im letzten Moment fest, daß die Frau in dem Chiton sich ihr zugewandt hatte. Rasch senkte Rosie, der wirre
Gedanken an Medusa durch den Kopf gingen, den Blick,
damit sie das Gesicht der anderen nicht sehen mußte. Statt
dessen sah sie den Rücken der Hand, die ihren Arm umklammert hielt. Der Handrücken war mit einem dunkelgrauen
Fleck bedeckt, bei dem Rosie an einen Raubfisch denken
mußte (selbstverständlich einen Teufelsrochen). Die Fingernägel sahen dunkel und abgestorben aus. Vor Rosies Augen
kam ein kleiner weißer Wurm unter ihnen hervorgekrochen.
    »Geh jetzt«, sagte Rose Madder. »Tu du für mich, was ich
selbst nicht tun kann. Und vergiß nicht: Ich vergelte es.«
»Gut«, sagte Rosie. Ein schreckliches, perverses Verlangen,
der anderen Frau in die Augen zu sehen, war über sie
gekommen. Um zu sehen, was dort sein würde. Es war
Wahnsinn, aber der Wunsch hatte sie dennoch mit der Kraft
einer Besessenheit im Griff. Aufzusehen, vielleicht ihr eigenes Gesicht unter dem toten, grauen Schatten einer Krankheit zu sehen, die einen in den Irrsinn trieb, während sie
einen bei lebendigem Leibe verschlang. »Na gut, ich gehe,
ich werde es versuchen, aber bringen Sie mich nicht dazu, Sie
anzusehen.«
Die Hand ließ ihren Unterarm los … aber langsam, als
wäre sie bereit, sofort wieder zuzupacken, sollte die Frau,
der die Hand gehörte, eine Schwäche bei Rosie spüren. Dann
wurde die Hand umgedreht, und ein toter, grauer Finger
deutete den Hügel hinab, wie der Geist der zukünftigen
Weihnacht Ebenezer Scrooge eine besondere Grabinschrift
gezeigt hatte.
»Dann geh«, sagte Rose Madder. »Verschwende unsere
Zeit nicht mit Fragen.«
Rosie ging mit gesenktem Blick bergab und beobachtete,
wie ihre bloßen Füße durch das hohe, scharfkantige Gras
schritten. Erst als ein besonders lauter Donnerschlag erklang
und sie erschrocken aufschaute, stellte sie fest, daß die Frau
in dem roten Kleid sie begleitet hatte.
»Werden Sie mir helfen?« fragte Rosie.
»Ich kann nur bis hierher mitkommen.« Die Frau in Rot
deutete auf die umgestürzte Säule. »Ich habe, was sie hat,
aber bis jetzt hat es mich nur gestreift.«
Sie streckte den Arm aus, und Rosie sah einen amorphen
rosafarbenen Fleck, der sich auf ihrer Haut in ihrer Haut zwischen Handgelenk und Unterarm krümmte. Einen ähnlichen hatte sie auf der Handfläche. Der war fast hübsch und
erinnerte Rosie an die Kleeblüte, die sie zwischen den Bodendielen in ihrem Zimmer gefunden hatte. Ihr Zimmer, das sie
als ihre Zuflucht betrachtet hatte, schien jetzt sehr weit entfernt zu sein. Vielleicht war das der Traum, ihr ganzes Leben,
und dies hier war die einzige Wirklichkeit.
»Das sind bis jetzt die beiden einzigen, die ich habe«, sagte
sie, »aber die reichen aus, daß ich da nicht rein kann. Der
Stier würde mich riechen und angerannt kommen. Er würde
es auf mich abgesehen haben, aber wir würden beide getötet
werden.«
»Was für ein Stier?« fragte Rosie verwundert und ängstlich. Sie hatten die umgestürzte Säule fast erreicht.
»Erinyes. Er bewacht den Tempel.«
»Welchen Tempel?«
»Die Herrin hat recht - es nützt nichts, Zeit mit Fragen zu
vergeuden. Schon gar nicht mit Männerfragen.«
»Was meinen Sie damit? Was sind Männerfragen?«
»Fragen, wo man die Antworten drauf schon kennt,
Mädchen. Komm hierher.«
»Wendy Yarrow« stand neben dem moosverkrusteten
Endstück der Säule und sah Rosie ungeduldig an. Nicht weit
entfernt ragte der Tempel auf. Wenn Rosie ihn ansah, taten
ihr die Augen weh, als würde sie eine Kinoleinwand ansehen, wo der Film verschwommen war. Sie sah ansatzweise
Wölbungen, wo mit Sicherheit keine waren; sie sah Schattenfiguren, die verschwanden, wenn sie blinzelte.
»Erinyes ist einäugig, und das eine Auge ist blind, aber
sein Geruchssinn ist vollkommen in Ordnung. Ist deine Zeit,
Mädchen?«
»Meine… Zeit?«
»Deine Zeit des Monats!«
Rosie schüttelte den Kopf.
»Gut, denn dann wären wir erledigt, noch bevor wir angefangen haben. Ich auch nicht, ich hatte keine Blutung mehr
seit die Krankheit ausgebrochen ist. Zu dumm, denn das Blut
wäre am besten. Trotzdem -«
Der lauteste

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