Das Bild
Donnerschlag bisher zerriß den Himmel
direkt über ihren Köpfen, und nun fielen eiskalte Regentropfen herunter.
»Wir müssen uns beeilen!« sagte die Frau in Rot. »Reiß
zwei Stücke von deinem Nachthemd ab, Mädchen
- ein
Streifen als Verband und ein großes Stück, in das du einen
Stein einwickeln kannst, wo aber noch soviel übrig ist, daß
du ihn zubinden kannst. Gib keine Widerworte, und stell
keine Fragen mehr. Tu es einfach.«
Rosie bückte sich, ergriff den Saum ihres Baumwollnachthemds und riß einen langen breiten Streifen aus der Seite
heraus, so daß ihr linkes Bein fast bis zur Hälfte entblößt
wurde. Ich werde beim Gehen aussehen wie eine Kellnerin in
einem chinesischen Restaurant, dachte sie. Sie riß einen zweiten, schmaleren Streifen ab, und als sie aufschaute, stellte sie
erschrocken fest, daß »Wendy« einen langen, gefährlich aussehenden zweischneidigen Dolch in der Hand hielt. Rosie
konnte sich nicht erklären, woher er kam, es sei denn, die
Frau hätte ihn an ihrem Oberschenkel festgeschnallt gehabt,
wie die Heldin in einem dieser wild-romantischen Romane
von Paul Sheldon - Geschichten, in denen es für alles einen
Grund gab, wie weit hergeholt auch immer.
Und wahrscheinlich hatte sie ihn genau dort, dachte Rosie. Sie
wußte, sie hätte auch gern ein Messer gehabt, wenn sie in
Gesellschaft der Frau in dem dunkelroten Chiton unterwegs
wäre. Sie mußte wieder daran denken, wie die Frau tatsächlich mit ihr unterwegs war, sich mit einem Finger an die
Schläfe gedeutet und Rosie gesagt hatte, sie sollte sie nicht
berühren. Sie will dir nicht weh tun, hatte »Wendy Yarrow«
gesagt, aber sie hat sich nicht mehr so gut unter Kontrolle.
Rosie machte den Mund auf, um die Frau, die neben der
umgestürzten Säule stand, zu fragen, was sie mit dem Messer vorhatte … aber dann machte sie den Mund wieder zu.
Wenn Männerfragen welche waren, deren Antworten man
schon kannte, dann war das eine Männerfrage.
»Wendy« schien Rosies Blick zu spüren und sah auf. »Das
große Stück brauchst du zuerst«, sagte sie. »Sei bereit,
Mädchen.«
Bevor Rosie etwas sagen konnte, hatte »Wendy« mit der
Spitze des Dolchs ihre eigene Haut durchbohrt. Sie zischte
ein paar Worte, die Rosie nicht verstand - möglicherweise
ein Gebet -, dann machte sie einen Schnitt an ihrem Unterarm, dessen Farbe zu ihrem Kleid paßte. Er wurde breiter,
Blut quoll heraus, als Haut und das Gewebe darunter auseinanderklafften.
»Ooooh, das hat weh getan!« stöhnte die Frau, dann
streckte sie die Hand mit dem Dolch aus. »Gib es mir. Das
große Stück, das große Stück!«
Rosie drückte es ihr verwirrt und ängstlich in die Hand,
aber schlecht wurde ihr nicht; der Anblick von Blut machte
ihr nichts aus. »Wendy Yarrow« legte den Stoff zu einem Polster zusammen, das sie auf die Wunde preßte, kurz festhielt
und umdrehte. Sie schien nicht die Absicht zu haben, einen
Druckverband anzulegen; sie wollte nur den Stoff mit ihrem
Blut tränken. Als sie ihn Rosie zurückgab, hatte der Fetzen,
der kornblumenblau gewesen war, als Rosie sich in ihr Bett
in der Trenton Street gelegt hatte, eine weitaus dunklere
Farbe … aber eine, die ihr nicht unbekannt war. Blau und
scharlachrot zusammen ergaben die dunkelrote Farbe des
Chitons.
»Und jetzt such einen Stein und binde dieses Stück Stoff
darum«, sagte sie zu Rosie. »Wenn du damit fertig bist,
zieh das Ding aus, das du trägst, und wickle beides darin
ein.«
Rosie sah sie mit großen Augen an und war über diesen
Befehl weitaus mehr bestürzt als über den Anblick des Bluts,
das aus dem Arm der Frau quoll. »Das kann ich nicht!« sagte
sie. »Ich hab nichts darunter an!«
»Wendy« grinste humorlos. »Ich werd’s keinem verraten«,
sagte sie. »Gib mir bis dahin das andere Stück, bevor ich verblute.«
Rosie reichte ihr den schmaleren Stoffstreifen, noch blau,
worauf die Frau mit der braunen Haut ihn sich rasch um den
verletzten Arm wickelte. Links von ihnen explodierten Blitze
wie ein monströses Feuerwerk. Rosie hörte einen Baum mit
einem langgezogenen, splitternden Krachen umstürzen. Jetzt
konnte sie einen heißen Kupfergeruch in der Luft wahrnehmen, wie von glühenden Pennys. Dann folgte der Regen, als
hätte der Blitz die himmlischen Schleusen geöffnet. Er fiel in
kalten Sturzbächen herab, die der Wind fast waagerecht verwehte. Rosie sah, wie er das Stück Stoff in ihrer Hand durchnäßte und zum Dampfen brachte, und sie sah die ersten
Rinnsale von rosa-blutigem Wasser daraus
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